Die Dichter und das Radio

Es gibt Legenden, schöne Familientableaus, die halten sich hartnäckig, so das von der Sippschaft die sich um einen Volksempfänger schart, aus dem wahlweise Führerbefehl oder Feindsender erklingt. Die Wiederholung macht das Szenario nicht glaubwürdiger, es begegnet einem aber immer wieder, ungefähr so oft wie die Entdeckung der Literatur mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke. Liebgewordene kollektive Erinnerungen, sie müssen ja nicht stimmen. Das Radio ist ein angenehmer Gefährte für Einzelgänger und kein Lagerfeuer der frühen Moderne. Wäre es das nämlich, hätte es längst ausgedudelt. So aber wird es immer wertvoller, ein Gerät, das die Funktion übernehmen kann, Einsame mit der therapeutischen Wirkung jenes ritualisierten Gebrabbels zu versorgen, für das früher die Kirche zuständig war. Das ist nicht respektlos gemeint. Töne, die einem vage vertraut vorkommen, auch wenn man gelegentlich ihren Inhalten nicht folgen mag oder kann, haben eine beschützende und tröstende Funktion. Man weiß das längst: Mangel an Bildern macht weit weniger arm und unglücklich als Mangel an Tönen. Wenn uns nichts mehr zu Gehör kommt, glauben wir, die Welt habe aufgehört zu existieren.

Die meisten Menschen denken, sie könnten nicht auf den Fernseher verzichten, das stimmt nicht. Dichter wissen das. Viele haben gar keinen, jedenfalls war das vor wenigen Jahren noch so. Indessen ist das Internet an die Stelle des Unverzichtbaren gerückt, ein akustisch eher ärmliches Medium. Auch das wird irgendwann obsolet werden, weiß der Himmel, was dann kommt, da sind die Kollegen von der science fiction zuständig. Mir ist es egal. Das Radio jedenfalls wird dem Einzelgänger, also den Dichtern, ein zuverlässiger Gefährte bleiben. Im schalltoten Raum können sich nämlich die Gedanken nicht ausbreiten, ans wachsen und blühen gar nicht zu denken. Der eine braucht dazu Vivaldi, der andere Staumeldungen, den Zuspruch am Morgen oder den Börsenbericht. Auch das seltsamste akustische Begehren wird befriedigt, man muß nur lang genug suchen. Allerdings wissen das die Programmverantwortlichen oft nicht, sie machen sich nämlich keine Gedanken über den Lebensmittelcharakter des von ihnen verantworteten Mediums! Also ändern sie Formate, verschieben das Gewohnte, schaffen es gar ab. Erfinden Sachen wie SERVICE, worunter sehr überflüssige Dinge zu verstehen sind, die darauf hinauslaufen, aus dem geliebten und vertrauten Medium ein akustisches Kindermädchen zu machen.

Radiohörende Dichter wollen keinen Service. Sie wollen zu immer gleicher Zeit die gewohnten Töne und Gedanken hören. Wenn man jahrzehntelang sein inneres Ohr – natürlich auch das äußere – an, sagen wir, Für Haus und Garten erfreut hat – nicht weil einen die Themen so brennend interessierten, sondern weil die sanftstimmige Abfolge merkwürdiger und interessanter Ratschläge eine so hypnotisch beruhigende Wirkung ausströmte – erschrecken einen taffe Service-Vorschläge, auch wenn sie sich dem gleichen Gebiet zuwenden. Das Radio ist ein undreistes, ein mildes, ein unaufdringliches Medium. Auch der Empfindlichste kann es nutzen, ohne Schaden zu nehmen. Das möge bitte so bleiben. Es sollte nicht Fernsehen ohne Bilder sein wollen, laut und chic und immer vornedran. Das paßt nicht zu ihm. Es hat ja auch einen Bildungsauftrag, und es ist schön, sich über die Dinge der Welt informieren zu lassen, während man Zeitungsausschnitte sortiert oder jene Post erledigt, bei der man nicht zu denken braucht. Und das Musikhören ist eben auch ganz anders, wenn einem ein Unsichtbarer, aber musikalisch weit Überlegener, die Auswahl abnimmt. Klassikradio ist kein CD-Auflegen. Da weiß man oft nicht, wonach einem ist, beziehungsweise welche Art von Musik unsere poetische Produktion beförden könnte. Das Radio nimmt einem die Entscheidung ab, es bringt uns auf ganz verwegene musikalische Ideen, Carmen und Carneval und Carmina, so lernt man was über Vielfalt und Mut.

In Zeiten von Katastrophen ist das Radio ein bekömmlicheres Informationsmedium als das Fernsehen. Akustisch wächst das Tröstende leichter als optisch, schon die Stimme in unseren stillen Räumen scheint Besorgnis, aber auch Besonnenheit mit uns zu teilen. Hektik sollte es nur bei Sportreportagen geben dürfen, und da gibt es sie auch, nichts wunderbarer, als wenn überschnappende Reporterstimmen uns von Tor zu Tor kreuz und quer durch die Republik jagen. Natürlich sind Auflösungserscheinungen zu beklagen. Es darf gequäkt, genölt und genäselt werden und den Grammatik-Regeln Gewalt angetan – das ist nämlich jugendlich und hip und bringt es weg vom bildungsbürgerlich-ältlich-vorgestrigen, schimmeligen Geruch, das Radio. Also ich fnde das schade. Ein paar Wellen sollten den schönen gewohnten Dingen freigehalten werden, dem großen Reisefeature, dem langatmigen Gespräch, den sanften Welterklärungen. Und dann Musik, Carmen, Carneval, Carmina. Nur so werden wir ihm treu bleiben, dem Radio, wir altmodischen Einzelgänger.

Die Prinzessin fährt nicht nach Constanza

Ein ganz anderer Weg auf die Wartburg

Rede zum 3. Oktober 1990,
gehalten im Reichssaal der Stadt Regensburg

Liebe Frau Oberbürgermeisterin,
verehrter Stadtrat,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist ein sonderbares Gefühl, heute, zum Tag des Endes der Nachkriegszeit, hier in meiner Geburtsstadt Regensburg zu Ihnen sprechen zu können — als schlösse sich ein Kreis oder als münde ein langer, verzweigter und unübersichtlicher Fluß endlich in den Ort seiner Bestimmung. Ich kann Ihnen dennoch keine besonders patriotischen, keine dröhnend eroberungswilligen, ja, nicht einmal eine den strapazierten Begriff des Historischen abdeckende Rede versprechen — es wird bestimmt, im klassischen, strengen Sinn, überhaupt keine »Rede« — nur ein Versuch, gemeinsam und mit der notwendigen stillen Skepsis neben aller Freude darüber nachzudenken, was zu uns gekommen ist und wie allzu große Verletzungen vermieden werden könnten. Denn unter den schwarzrotgoldenen Balkenüberschriften, dem fußballtrunkenen Geschrei, dem »Einig« und »Ein Volk« und »Das Volk«, unter den in immer rascherer Folge einherjagenden historischen Stunden, Momenten, Tagen, Zeiten — oder welche Zeiträume für passend erachtet wurden, dem berühmten Mantel der Geschichte zu lauschen — unter all dem waren Angst, Unsicherheit, Eigennutz und Trotz versteckt. Erfahrungsgemäß ist es nicht gut, wenn über derlei Gefühlen der Deckel aufgezwungenen Jubels festgehalten wird: Besser ist, in uns und um uns herum nachzusehen, was geschehen ist, uns und denen, die noch bis vor einem knappen Jahr keines von den Rechten der anderen europäischen Nachbarn hatten, und die nicht, wie immer behauptet wird, vierzig Jahre Diktatur hinter sich hatten, sondern sechsundfünfzig. Beschwörungsformeln und Besserwisserei nützen da gar nichts, auch nicht die herablassende Ungeduld, mit der ich bei meinen Reisen immer wieder zu kämpfen hatte — nicht nur bei meinen westlichen Mitreisenden, sondern (zu meinem Schrecken) bei mir selber auch.

Der Geschwindigkeit, der Effizienz, dem Erfolgsdenken haben wir hier in den letzten Jahren — ohne es zu merken und vermeintlich durchaus kritisch — viel mehr Raum gegeben; auch sehr viel mehr von uns, unserem Leben und unserer Substanz, als wir wußten. Die ersten Begegnungen mit den anderen Ländern, gezwungen langsam auf holprigen Straßen, was ich durchaus nicht nur wörtlich zu verstehen bitte — waren wie ein Blick in einen alten Spiegel, einen jener Spiegel, die schmeicheln, weil das Glas nur die Konturen und schönere Farben zeigt. Bei mir ging jene erste Reise nach dem Fall der Grenze nach Eisenach, und von ihr werde ich Ihnen anschließend — anstelle historischer Beschwörungsformeln — erzählen. Aber gestatten Sie mir vorher noch einige Gedanken zur Fremdheit und zur Vertrautheit.

Vielleicht ist meine Generation — knapp vor oder nach Kriegsende geboren — die einzige, die eine Art unschuldigen Schmerz in sich spürte und immer wieder erstickte — wir wußten um die Grenze, aber wir hatten sie nicht verursacht und infolgedessen das Verursachen auch nicht verdrängt. Wir bemühten uns um Kontakte. Wo immer wir standen, nicht nur in jenem vielfach wichtigen Jahr Achtundsechzig, war diese Grenze und das, was hinter ihr geschah, eine Herausforderung. Sie zu überwinden (wenn auch anders, als man sichs damals hätte träumen lassen), war wichtig: vom Antifaschismus zu lernen. Wie auch immer, das fremde Deutschland zwischen Thüringen und Ostsee war in unseren Köpfen, wir kannten es nicht wirklich (wie die Älteren), es war uns aber auch nicht gleichgültig (wie den meisten der Jüngeren). Eine schwierige, von Irrtümern, Träumen und Neugier gesäumte Angelegenheit war die Beziehung meiner Generation zum abgesperrten Deutschland. Ich war beruflich öfter in der ddr. Ich habe versucht, es zu vermeiden, weil ich gegen Kasernenhofton, Bevormundung und Bürokratie immer schon allergisch war — egal, wer sie anwandte, diese Erbteile, von denen wir verblüfft feststellen können, daß sie drüben weit stärker und verwechselbarer konserviert worden sind als hier. Jetzt zu reisen ist etwas ganz anderes. Die Geschwindigkeit, mit der diese furchtbaren Befestigungsanlagen verschwunden sind, erscheint unwirklich. Mit der Wirklichkeit all dessen bis heute werden wir noch lang unsere Probleme haben, und die anderen, die jetzt nicht mehr die anderen sein sollen und wollen und dennoch für lange Zeit andre werden bleiben müssen — die auch. Es ist eigentlich eine Zeit der Zwischentöne, der gebrochenen Farben, der etwas zögernden Nuancen. Allzu leicht wird es sein, gepanzert mit den sogenannten besten Absichten dort einzuziehen und eine Dressur auf die Beine zu stellen, die sich gewaschen hat. Viele werden, den neuen Markt im Auge, dafür die besten Argumente haben. Das wäre zu kurz gedacht und auch zu herzlos. Der Prozeß des Sich-Aufrichtens wird länger dauern, Mut und Selbstvertrauen wachsen nicht so schnell, wie die Menschen es sich wünschen. Rückschläge und Trotz wird es geben, das ist normal. Es geht nicht um die Überführung der Hölle in eine Paradiesgesellschaft mit beschränkter Haftung, aber unsere Boulevardpresse tut so, als gäbe es das.

Rezepte, wie Vernunft und Freundlichkeit einen Platz in der allzu stürmischen Entwicklung finden könnten, sind nicht leicht zu finden, aber es könnte sie geben, machte man sich die Erkenntnis des Philosophen Leopold Kohr zu eigen, daß nur mit der Konstruktion kleiner Einheiten menschenwürdige Ergebnisse zu erzielen sind und nicht mit der totalen Vereinheitlichung durch Großkonzerne.

Gerade hier, in meiner aus der Ferne heißgeliebten Vaterstadt, müßte auch die Erkenntnis auf freundliche Aufnahme stoßen, und zwar quer durch alle Parteien: Menschen haben ein Recht auf ihre regionale Identität, die nichts anderes sagt als ein Recht auf Heimat.

Die eigenen Orte (die inneren und äußeren) zu verachten, kann nur Unglück und Aggression erzeugen — und auch der dumpfe Nationalismus, vor dem so viele — hier und in der europäischen Nachbarschaft — Angst haben, entsteht auf der Grundlage latenten Selbsthasses und verdrängter Selbstverachtung. Ein Mensch, der seine Umgebung kritisch liebt und sich in aller Autonomie in ihr wohl fühlt, weiß genau, daß er selbst Ausländer ist — und zwar an allen anderen Orten dieses Erdballs außer in seiner unmittelbaren Umgebung. Die unaufgeräumten Gefühle und ihre versteckt oder offen brutalen Äußerungen rühren aus einem zu geringen und nicht aus einem zu großen Selbstbewußtsein. Unterdrückung, Angst und Demütigung sind ihre Wurzeln. Der nationale Größenwahn läßt sich nur durch Selbsterkenntnis und Gelassenheit, nicht durch Dekrete oder Lippenbekenntnisse eindämmen. Um gegen die sozialen, aber auch intellektuellen Verwerfungen ein bißchen anzureden, die viele Besonnene fürchten und die so gering wie möglich zu halten unsere Aufgabe sein wird (was wir mit Sicherheit nicht mit der Dauereuphorie der letzten Monate bewältigen können), will ich eine Reisegeschichte erzählen, eine kleine Reisegeschichte, die viele Reisen in einer beschreibt:

Eine erste und zweite Reise wie die nach Eisenach führt in immer die gleiche und doch immer in eine andere Stadt — es ist eine Reise zu einem bisher nur von fern bewunderten Symbol. Der Weg sei das Ziel, heißt es in einem dieser Sinnsprüche, die immer so toll klingen, aber doch auch ein wenig neblig sind. Für mich war das Ziel eine Aufmunterung zu weiteren Wegen, denn ich bin ganz sicher, daß die wesentliche Eigenschaft, mit der wir eine unaufgeregte Annäherung erreichen können, die Neugier ist.

Wir dachten immer, nur die müßten auf uns neugierig sein und auf all unsere bunten Schätze der Verbrauchsgesellschaft — aber in Wahrheit können wir auf die und deren Orte neugierig sein wie auf unsere eigene Kindheit, trotz aller Finsternisse (die gibt es in Kindheiten auch). Lassen Sie mich Ihnen ein wenig von meiner Neugier abgeben!

Ein ganz anderer Weg auf die Wartburg

Der Weg ist bekannt: Aber den Grenzübergang Herleshausen, nein, Herleshausen nicht — diese martialische Festung haben wir oft überwunden, demütigen Gesichts, mit unterdrückter Wut gegen die männlichen und weiblichen Vopos, die verbieten konnten, was immer sie wollten: Kriminalromane, Zeitungen, lautes Gelächter (das dann auch wie von selbst im Halse steckenblieb). Spiegel schieben sich unter das Auto, »machen Sie da mal auf!« Oft und oft den renitenten Blick hinter Sonnenbrillen versteckt: »Nehmen Sie die Brille ab!« Einmal, auf einer anderen Reise, hatte sich grade der Magdeburger Dom im Zugfenster wie in einem halbblinden Bild gezeigt, da kam ein kindergesichtiger Grenzer ins Abteil und verlangte den Paß. »Eigentlich«, sagte ich, »will ich grade jetzt und hier keinen Paß haben müssen!« — »Sie haben keinen Paß?« fragte er zurück und wuchs ein wenig, blähte sich gleichsam obrigkeitlich auf— »ist schon gut, da ist er!« sagte ich. Es war eine Niederlage, mikroskopisch klein, aber noch lange störend wie ein Sandkorn im Schuh. Es war eine andere Reise, ein anderes Land, eine andere Zeit: Ein Jahr zuvor. Nein, nicht Herleshausen. Fahren wir über Philippsthal, wo nicht so viel Grenze und Befestigung zu sehen sein wird. Wir wollen Philippsthal, das von seiner kurzen, traurigen Berühmtheit als Heimat der Kindesmörderin Weimar noch immer nicht genesen ist, eigentlich nicht besuchen. Hier schämt man sich seiner unwillkürlich neugierigen Blicke, die sehen, was jeder sehen kann — einen Ort im toten Winkel, eine Ansammlung von völlig gesichtslosen Häusern, eine Grube, die weißen Salzkristalle am Grunde der glasklaren, toten Werra. Ein schöner Klosterhof—nun sind wir doch drin und drücken uns an der Grenze herum, ohne sie zu sehen. Doch, da — auf dem gebuckelten Sandsteinbrückchen hockt grau ein Wachturm in der Sonne, so absurd, wie konnte der je bedrohlich sein? Im November gab es noch etwas Draht am Weg und einen Container für die Grenzer, die unablässig lächelten, als hätten sie es frisch gelernt, und einen Stempel hatten sie, den sie handhabten, als sei der Paß eine Jubiläumspostkarte. Jetzt, im September danach, ist alles weg, nur Straße und Ortsschilder mit merkwürdig ungewohnten Namen. Wie weit nach Eisenach? Wir wissen es, »bei unseren Straßen hier ne gute Stunde«, hatte der seiner Arbeitslosigkeit entgegenlächelnde Grenzer damals gesagt. Vacha, Oberzella, schwarze Kühe vor gelb rauchenden Schloten, na, Gottseidank, wenigstens davon hat man ja gehört. Aber daß die Straße mit den darübergeneigten Bäumen so schön sind, jetzt im späten Sommer, davon hörte man weniger. Nur, wie unzulänglich sie seien für die Autos, die jetzt gekauft und gefahren, herurngezeigt und gewienert werden. Fahren als heiligstes Recht, und in jedem Dorf sind ganze Herden viel zu teurer Gebrauchtwagen versammelt, behütet von den Nachfahren der Roßtäuscher aus dem Westen. Nie wird man die unwahrscheinlichen Trabifarben wiedersehen, jenes karibische Türkis zum Beispiel, mit dem sie bescheiden und giftig über die buckligen Straßen zockelten. Zockeln will keiner mehr, nur wir, der Eile müde. Vielleicht sollte man einfach die Bevölkerung komplett austauschen? An ein Jugendheim an der Straße, von fortschrittlicher, selbstbewußter Häßlichkeit, steht geschrieben: »Ein Mensch. Wie stolz das klingt.« Drunter: »Maxim Gorki«. Ob sie das dranlassen werden? Dunkler Wald, dunkler Tunnel, dunkler Himmel. Ein buntes Plakat. Ein Westkandidat. Am ho-Restaurant Jägerklause hängt das bekannte Schild »Wegen Renovierung geschlossen«. Aber aus Bretterstapeln und Farb töpfen läßt sich die Hoffnung ableiten, daß es diesmal vielleicht Wahrheit wird.

Fühle ich mich fremd? Nicht mehr so verlegen — fremd und gerührt wie im letzten November, als man mich auf Transparenten brüder/schwesterlich begrüßte und an jedem dritten Haus Nahrung und Wohnung angeboten wurde; die Transparente sind verschwunden, die Verwandtschaft in der Zwischenzeit doch als eine sehr entfernte erkannt. Da steigt sie plötzlich vor uns auf, die Wartburg, unversehens, für diesen Augenblick der schutzlosen Überraschung sind wir ganz allein mit ihr, unter dem dichten Blätterdach hervor dieser Blick in den Himmel. Wolken jagen hinter ihr vorbei, wie es sich gehört. Walther von der Vogelweide hätte bestimmt keine Wolken jagen lassen, dazu war er zu dezent, Wagner aber schon. Nun jagen sie also, und hinter uns hupt einer, blindes Volk — oder ein Einheimischer. Sehr geschichtsträchtige Städte, die für die säkularisierte Wichtigkeit, also die Industrie und das Gewerbe, nichts bedeuten, sondern einst spiritueller Mittelpunkt vieler Welten waren, haben etwas Betäubtes, wenn sie so daliegen, das Alltägliche krabbelt in ihnen herum und scheint sie zu irritieren. Der Marktplatz von Eisenach ist vollgestopft, Autos und Marktstände, kleine, zarte Polizistinnen versuchen streng zu schauen, aber das kauft ihnen keiner ab, und dann lächeln sie wie erleichtert. Ja, es wird renoviert, eine arbeitsame Musik aus Schlagbohrern, Kreissägen und Hämmern durchzieht die Stadt, und Läden, die ich im letzten Winter noch leer und verrammelt gesehen habe, sind wieder geöffnet, wie zum Beispiel die Fleischerei Schmalz und die Bäckerei Liebetrau, das freut mich im Vorbeigehen, schon wegen der schönen Namen. Auf dem Marktplatz ist wirklich Markt.

Eine lange Reihe von Vietnamesen verkauft Cassetten, auf denen der Ententanz zu hören ist oder Heino, Bauern flüstern miteinander über Schweinepreise, ein junges dickes Mädchen verliebt sich sichtlich in einen Minirock mit schwarzen Spitzenrüschen. Nachbarn? Wir sind Nachbarn, aber alle Beschwörungen schneller Assimilation scheinen mir plötzlich absurd. So groß ist die Betäubung, so gefährlich ist die unüberwundene Teilung. Wie einfach sind die Mauern um ein Land niederzureißen, wie schwierig die um Kopf und Seele — hüben und drüben, wohlgemerkt. Mauern: Eisenach stellt Hügel vor dir auf, du steigst rauf und runter, der tollste Berg wird noch kommen. Pustend bleiben wir an einem schönen, ermüdeten Gründerzeithaus stehen, in das ein längst verblichener stolzer Besitzer 1911 seine abenteuerliche Grammatik hat einmeißeln lassen: dies haus ist mein und doch nicht mein / wer nach mir kommt, wirds auch so sein. Später, ein wenig außerhalb, werden wir halbversteckte weiße Häuser sehen, die alle der Stasi gehört haben. Sie ist noch da, die Stasi, jeder hat sie gespürt, jeder deutete, vier Finger wiesen auf viele zurück. Ich denke an Schwere und Vielfalt der Probleme, die mit einer geduldigen Entflechtung einhergehen werden.

Im letzten Jahr hatte ich mich auf den Anstieg zur Wartburg gemacht, den klassischen Fußweg wollte ich nehmen, an dessen Bäume liebenswürdige Schulkinder kleine Zettel geheftet hatten: »noch 30 Minuten«, »noch 1600 Meter« — ach, es war sicher richtig abgemessen, aber eben doch nicht wahr. Ich konnte nicht mehr atmen, als ich sie sah, diese überaus deutsche Burg, diesen deutschen Geschichts- und Kunstberg, ich kriegte einfach keine Luft mehr, da stand sie nun und ich an der Sängereiche — und ich konnte nicht weiter, und sie schien so weit entfernt wie zuvor. Ich gab auf und trabte wieder hinunter, Steine in den Schuhen und Gram im Herzen. So leicht erobert sich eben nichts. Unten angekommen, ging ich in einen Kaufladen und kaufte für 13 Pfennig Ost ein Päckchen ata. Es war so ein blaues Päckchen wie in den Kaufläden der Kindheit, aber was wollten sie hier mit meiner Sentimentalität? Das Simple wird hier lang keine Freunde mehr haben, erst unser Überfluß macht empfänglich für die ganz alten, gleichgebliebenen Dinge. In einer Schachtel lagen gallegrüne, bittere cubanische Orangen. Jetzt gibt es alles. Alles? Ich fahre jetzt, ein knappes Jahr später, hinterrücks und faul auf die ersehnte Burg, die von Geschrei erfüllte, zum Platzen mit Schulkindern, Japanern, Engländern und besserwisserischen Landsleuten gefüllte Burg der Heiligen, der Ketzer und Künstler. Und es wird die größte Überraschung, wie deutsch sie ist. Aber vorher höre ich am Marktplatz in der Georgenkirche die strengen Orgeltöne in den Kirchenhimmel steigen.

Und ich lese voll Staunen auf einem Plakat, ganz in der Nähe des Altars: herr du hast uns heimgesucht /1933 /1939 /1945. Da ist der Schlag gegen die Diktatur in eine schlichte Zahl verpackt. Nicht gerettet hat sie der herr, 1945, wie doch viele und ich auch gedacht hatten, früher, vor langer Zeit — nein, heimgesucht. Und im Haus des herrn, in Bachs Kirche, hat sich im vorigen Jahr die Opposition immer wieder versammelt. Sie geht unglaublich nah, die Mischung aus dieser alten Musik und den überall angebrachten nüchternen Protokollen über das, was einzelne in den Monaten vor der »Wende« erduldet haben, mach uns zu boten deines Friedens.

Eine Elefantenherde von Bussen macht den Weg auf die Wartburg, an mir vorbei, ich bleibe am Lutherhaus hängen, wo bei der Familie Cotta Luther Kurrendesänger war. Luther werde ich wiederbegegnen, nicht nur in diesem Häuschen, in dem ein Fremdenführer wie ein ostdeutscher Zwerg Perkeo über Marktwirtschaft und Geschichte, Bibel und Sozialismus erzählt.

Als wir ihn bezahlen mit einem Schein, der bei uns nicht für ein einfaches Essen zu zweit reichen würde, steigt ihm das Wasser in die Augen. Im Osten haben sie ihm eine Versehrtenrente bezahlt (er hält ein dreifingriges Händchen hoch) — der Westen hat die Rente gestrichen. Es gibt eine große Armut bei den alten Leuten, die doppelt und dreifach betrogen worden sind, um Lebenszeit, um Würde, um Träume, auch um fixe Ideen. Wer hat was getan? Die Schuld wird zur Wut. alte Gruppen von Tätern finden sich neu zusammen im Zeichen der Marktwirtschaft, überall erzählen sie einem dieselbe trübe Geschichte. Wem kann man glauben? Vielleicht ist eine der lautlosesten, aber folgenschweren Tragödien in all der Vereinigung, daß viele den Trost verweigern, den die Schönheit in der Nähe spenden könnte: eine alte Allee, ein Hof, ein vergessenes Schloß oder eben die Burg. Das wollen sie alles nicht mehr sehen. Sie identifizieren sich nicht mehr mit ihrer Umgebung, sie geben sie preis, sie lassen die Kirschen im eigenen Garten verfaulen und essen die Kirschen der vermeintlichen Freiheit, die so teuer sind und auch nicht anders schmecken — oder doch? Ich weiß es nicht, auch der Luthererklärer kann es mir nicht erklären — er will sparen für die nächste Westreise. Und endlich: die Burg!

Wir finden alles in einer Mischung aus Mittelalter und romantischem 19. Jahrhundert, wie es das nur bei uns geben kann. Die Burggebände mit Palas, Rittersaal und Kemenate der Heiligen Elisabeth. Aber den mittelaltertrunkenen Geschichtsliebhabern der Jahrhundertwende war das nicht schön genug, und so glitzert alles von Mosaiken, Moritz von Schwind hat die Geschichte der Heiligen Elisabeth mitsamt dem Rosenwunder gemalt, süßer als Schlagsahne, in Puderzuckerfarben, und der Burgkonservator hat Sorge, weil die Fresken den neuen Besuchermassen nicht gewachsen sind.

Und dann das Lutherzimmer, ein winziges, karges Gemach, ein Walfischknochen als Fußbank, immerhin ein Ofen. Ein Ort, der den reinen, unabgelenkten Geist atmet. Hier hat er, getarnt als Junker Jörg, in unfaßbar kurzer Zeit, in wenigen Monaten, das Neue Testament übersetzt. Aus den Fenstern der Burg: Blicke über das thüringische Land wie Bilder, die sich Jahrhunderte lang nicht verändert haben. Goethe hat das oft gezeichnet, wenn er mit der Hofgesellschaft aus Weimar herüberkam. Man spürt trotz der Menschenmassen, wie hier die Zeiten höchster Konzentration auf Kunst und Politik und Zeiten der Fast-Vergessenheit ineinandergreifen. 1817, dreihundert Jahre nach der Reformation, das Fest der Burschenschaften, die Vorwegnahme der deutschen Einheit, überweht von der schwarzrotgoldenen Fahne. Der Festsaal zeigt sich in seiner ganzen düster-fremden Pracht. Es gehört zu unserer Geschichte, dieses Verwirrung verursachende, pathetische Gebäude, in dem die »deutsche Seele« sich in all ihren Facetten, den dunklen und den hellen, abbildet. Es macht neugierig. Man wird Walther von der Vogelweide wieder lesen, den Eleganten und Leichtfüßigen, oder sich an den Tannhäuser wagen, oder einmal wieder ein Grimmsches Märchen lesen, das Dornröschen vielleicht, dessen Burg anderswo stand, gar nicht weit von hier, aber auch die Wartburg lag im Schlaf. Was passierte beim Aufwecken? Wir erinnern uns: Der Küchenjunge bekam erst einmal die seit hundert Jahren schlafende Maulschelle — aber dann haben der Prinz und die Prinzessin doch geheiratet, und wir können nur hoffen, daß sie glücklich werden können.

Ich danke Ihnen.

einmalige Auflage von 2500 Exemplaren zum Jahreswechsel 1990/91
erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt
© Eva Demski, Frankfurt/Main 1990

Mein erster Held

Ich hätte ihn nicht so genannt, erst jetzt, später im Leben. Helden hat man als Kind, aber man nennt sie eben nicht so. Sie heißen Papa oder Pippi oder Harry. Meiner hieß Battist, und ich habe ihn schon manchmal in Geschichten geschmuggelt und irgendwo am Rand herumspuken lassen, weil ich mich so gern an ihn erinnere. Ich kannte ihn nur wenige Jahre, meine ersten, dann starb er. Das ist keine schlechte Voraussetzung für Helden, denn wenn einer überhaupt das Zeug dazu hat, ist es gut, wenn er noch in voller Blüte die Bühne verläßt. Dann können die Legenden ungestört wachsen. Im wirklichen Leben nutzt sich das Heldentum ja ab, wie eine Farbe. Auch das Alter bekommt ihm nicht besonders gut, zu viele Kapitulationen vor der Wirklichkeit machen das Bild blind und grau. Alte Helden haben wie alte Eroberer und die meisten alten Dichter etwas Rührendes, und das paßt nicht zu einem brauchbaren Helden.

Oder die Helden sind von vornherein nur erfunden, was eigentlich unbefriedigend ist. Da fehlt die Verlockung, es ihnen nachtun zu können, wenn man nur wollte. Erfundene Helden haben etwas karlmayhaftes, sie verbleichen und verschwinden schließlich nach der Pubertät.

An meinen riesigen Großonkel Battist, der eigentlich Jean­Baptiste hieß, erinnere ich mich dagegen sehr genau, auch jetzt noch. Und obwohl er sich nichts von dem, was heute alltäglich ist, auch nur hätte vorstellen können, frage ich mich oft, was er in bestimmten Fällen an meiner Stelle getan hätte. Er machte nämlich alles anders als andere Leute, mein Held. Zuerst muß ich aber beschreiben, wie er aussah: Das Aussehen ist für einen Helden sehr wichtig, was vom Geplapper über innere Werte zu halten ist, wissen wir ja. Bis heute ist es nicht gelungen, für die Entwicklung und Förderung der inneren Werte eine nennenswerte Industrie auf die Beine zu stellen, nicht einmal in der Forschung spielen sie eine Rolle – dagegen die äußeren! Ein gar nicht hoch genug einzuschätzender Wirtschaftszweig! Also: Battist war riesenhaft, mächtig, schwer, und hatte einen kahlrasierten Schädel. Auf seine Handfläche paßte ein Fünferwurf junger Kätzchen. Er hätte jede Möglichkeit gehabt, furchterregend zu wirken, was er aber nicht zu wissen schien. Sein Fürstentum war der „Felsenkeller“, eine legendäre Brauereigaststätte, die heute noch existiert. Ich bin ­lang nach dem Tod meines Helden ­noch einmal dort gewesen, da schien das Haus faltig, zerknüllt und ausgeblichen wie ein altes Zeitungsfoto. Als Battist noch lebte, war der Felsenkeller ein Zauberschloß, in dem es nach Malz und Bratkartoffeln roch, die Musik war eine wunderbare Sinfonie aus dem Klingeln, Quaken, Rattern und Scheppern der ersten Münzspielautomaten. Er war Herr über dieses Reich, im Keller waren die Braukessel und in der Küche seine Frau. Die betete ihn an, aber das taten alle. Ich auch. Vor allem nach jener ersten Lektion in Gehorsamsverachtung, die er mir gab. Beim Familienspaziergang hatte ich in einem Laden ein Gummischwein von majestätischer Scheußlichkeit gesehen und mich so vergafft, wie nur eine Vierjährige es kann.

Um Gottes willen, sagte die ältere Schwester des Helden, meine Großmutter – wie kann etwas nur so geschmacklos sein. Es wird immer schlimmer, was die Leute so kaufen, immer ordinärer. Und sie zog mich weiter. Ich weiß nicht mehr, ob ich gequengelt habe, wahrscheinlich nicht. Eher habe ich mir Wege durch den Kopf gehen lassen, wie ich trotzdem an die ersehnte Sau kommen könnte. Nach dem Essen zogen sich alle in ihre Zimmer zurück, deren es im Felsenkeller meiner festen Überzeugung nach hunderte gab. Battist blieb, Mittagsschlaf war sowieso nichts für ihn.

Komm, sagte er zu mir, wir gehen in die Stadt, die Sau kaufen.

Aber Kitty sagt, sie ist geschmacklos, sagte ich.

Geschmack ist egal, sagte er. Geschmack ist was für Erwachsene, die Angst haben. Wir haben keine Angst.

Er bestimmt nicht, das konnte jeder schon von weitem sehen.

Wir gingen das Schwein kaufen, auch die Verkäuferin schmolz dahin, als sie ihn sah.

Warum schaut die so? fragte ich.

Er lachte. Das brauchst du nicht zu wissen, du wirst nie so schauen!

Natürlich würde es besser in diese Geschichte passen, wenn ich jetzt schreiben könnte, daß die Sau noch heute in meinem Besitz ist, als Heiliges Tier der ersten Wider­ständigkeit gewissermaßen. Die Wahrheit ist, daß ich mich nicht daran erinnerte, was folgte. Sie werden über Battist gelächelt haben, liebevoll, und das Schwein als eine seiner geringsten Sünden zur Kenntnis genommen haben.

Er sei ein schwieriges Kind gewesen, hieß es mit jenem Respekt, den man in versunkenen Tagen widerspenstigen und ideenreichen Söhnen entgegenbrachte. Er war der jüngste, nach zwei Schwestern, die ihn heiß liebten und in dem Riesen den kleinen Buben sahen, der, wenn der Wind mit den Fensterläden klapperte, sagte: Horcht! Die Sonne scheint! Sie nahmen ihm auch nicht übel, daß er sie bewogen hatte, alle Hemden und Handtücher, deren sie hatten habhaft werden können, in einzelne Fädchen zu zerzupfen: Das bräuchten die armen Soldaten im Feld, hatte er behauptet. Als Watte. Die hieß übrigens Scharpie, ein längst ausgestorbenes Wort.

Die große Familie und alle Freunde bewahrten seine Geschichten auf, polierten sie, schmückten sie aus, gaben sie weiter. Aus Geschichten war er gemacht, mein Held, und in ihnen lebte er weiter, eigentlich ganz unangefochten. Der Tod konnte dabei nicht stören, er selbst fügte welche hinzu: Wie damals Freunde und Verwandte aus ganz Europa Hals über Kopf in ihre Autos gestürzt waren, als die Kunde sie erreichte: Eine rabiate Krankheit habe ihn, den Unverletzlichen, überfallen. Aus Ost und West raste man zu ihm, so gut man auf den holprigen Straßen eben rasen konnte – und dann war er weg. Einfach verschwunden hinter einem Kometenschweif von Legenden. Auch sein Begräbnis trug zu jener Unsterblichkeit bei, in deren Licht Helden für immer stehen. Mir erzählten sie nicht viel davon, daß aber sein Hund Bussi – ein mißlauniger Schnauzer, vor dem jeder Angst hatte – das Fressen eingestellt habe und nach wenigen Wochen auf dem Grab seines angebeteten Herrchens verendet sei – das muß mir doch jemand erzählt haben? Wahrscheinlich in der Küche, es gab Küchengeschichten und Wohnzimmergeschichten über Battist, auch an Schlafzimmergeschichten soll kein Mangel gewesen sein. Die landeten aber viel später erst bei mir.

Seine Begeisterung für das Soldatentum war – sehr untypisch für seine Zeit – offenbar nicht so ausgeprägt, wie man nach der Scharpie­Geschichte hätte denken können. Im Gegenteil: Er hielt Krieg jeder Art für unsinnig und seiner Lebensfreude nicht zuträglich. Und so ließ er sich tatsächlich als Junge in die Irrenanstalt sperren, weil er tagelang ohne auszusetzen das Lied Es ist so schön, Soldat zu sein gesungen hatte. Seine arme Mutter, meine Urgroßmutter, soll um ein Haar darüber richtig verrückt geworden sein: Ein Sohn, der einzige, der Stammhalter, und wollte dem Vaterland nicht dienen! Welche Schande! Allerdings muß auch sie gewußt haben, daß das mit dem Vaterland so eine Sache war: Man hatte doch reichlich Freunde und Verwandte auf der anderen Rheinseite, und die sollten nun die Feinde sein, die Franzosen? Nicht für den jungen Jean ­Baptiste! Er machte auf seine Weise den kleinen Frieden im großen Krieg, immer und immer wieder, und ließ sich dabei nicht stören.

Das war aber alles lang her, noch ein Krieg hatte überstanden werden müssen, ein noch grausamerer, grade erst war er zu Ende gegangen. Erst da kam Battist in mein Kinderleben, einer, der nicht mitgemacht hatte. Nicht aus politischen Gründen, glaube ich: Ob er überhaupt etwas von Politik wissen wollte – ich habe keine Ahnung. Aber von Freiheit verstand er etwas, und von Unabhängigkeit – und davon, daß man Dinge, die man können wollte, auch konnte. Angeblich jagte er als allererster ein Auto durch seinen kleinen Heimatort, natürlich hatte er sich das Fahren genau so selber beigebracht wie das Klavierspielen. Noch Jahrzehnte nach seinem Tod erzählte man sich von seinen anarchischen Konzerten, sie sind ein ganz wichtiger Ast am Baum seiner Legenden. Alles, habe er spielen können, alles! Ohne jemals in seinem Leben auch nur eine einzige Note zu kennen! Ich war neidisch und ein bißchen beleidigt – ich hatte ihn nie spielen hören.

Warum halte ich bis zum heutigem Tage diesen Gastwirt, Brauereibesitzer und Freizeitmusiker vom Rhein für meinen ersten und eigentlich einzigen Helden? Vielleicht, weil er die Verkörperung des Lebe den Tag! war. Und weil es ihm – unerläßlich für einen ordentlichen Helden – gelang, den Legendenstrom, auf dem er segelte, bis zu seinem grandiosen Untergang nie austrocknen zu lassen. Wahrscheinlich finden sich in den Weinstuben seiner Gegend auch heute noch Menschen, die von ihm gehört haben. Natürlich ist es auch die Sehnsucht nach dieser regellosen und von unverwechselbaren Typen besiedelten Zeit, die einen wie ihn unvergeßlich macht. Es war unordentlicher damals, unhygienischer, wärmer, gefährlicher, überraschender. Die Bilder, denen man gleichen wollte, mußte man sich selber zusammensuchen. Battist liebte übrigens das Kino, und seine Tränenorgien in sentimentalen Filmen waren so berühmt wie sein Klavierspiel. Der Riese soll so lang im Kino zum Gotterbarmen geschluchzt haben, bis das ganze restliche Publikum sich in Weinkrämpfen wand.

Kleine Kinder und Tiere liefen ihm nach. Ich kann mich übrigens genau an das Gefühl erinnern, mit dem ich andere Kinder, die seine Nähe suchten, beäugte: Der gehört mir! Das erschreckte mich zwar ein bißchen, es gefiel mir aber auch. Wie alle sehr starken und sehr geliebten Menschen war er barmherzig, auf eine völlig selbstverständliche und zärtliche Art. Er schiente verletzte Spatzen mit Zahnstochern. Die pickten ihm dafür Kuchenkrümel von den Lippen. Bettler liebten ihn. Es gab viele damals.

Gewiß hinterließ er eine Spur von gebrochenen Herzen, die ihm nichts ausmachte. Es hieß, er sei zeugungsunfähig, seine Ehe blieb kinderlos. Auch die vielen, vielen Lieben, die ihm nachgesagt wurden, hatten offenbar keine Folgen. Er wäre ein überlebensgroßer und allzu mächtiger Vater gewesen. Es ist interessant, aber schwierig, herauszufinden, warum seinesgleichen offenbar ausgestorben ist –höchstens in irgendwelchen osteuropäischen Biotopen existiert noch das eine oder andere Exemplar eines Fürsten dieser Art. Das sind solche wie er nämlich gewesen: Inhaber unsichtbarer Fürstentümer voll Selbstbewußtsein, wilder Freude und Melancholie. Das hat mit Besitz wenig zu tun. Ich hatte Battist immer für unermeßlich reich gehalten, wie überschaubar sein Eigentum war, weiß ich heute. Nichts besonderes, eine Kneipe, ein paar Weinberge, eine kleine Brauerei, und trotzdem eine grandiose Welt voller Feste und Freundschaften. Absolute Unbescheidenheit trotz durchaus bescheidener Verhältnisse. Kann sein, daß mein Blick auf den Helden ein bißchen eingefärbt ist. Kann sein, daß er gar nicht so riesig war wie in meiner Erinnerung. Ob er Bücher las, weiß ich nicht. Sein Vater war mit Stefan George befreundet, aber nicht, wie man üblicherweise mit dem befreundet war, nicht elitär­poetisch, sondern erdig, Kumpanei unter Rheinhessen eben. Daß dem ungebärdigen Sohn die George­Gedichte gefallen haben, glaube ich nicht. Heine hingegen soll er gemocht haben. Zwischen ihm und mir spielten Bücher sowieso keine Rolle, er war mehr dafür, mich der Obhut allzu ängstlicher Frauen zu entziehen und mir das Leben zu zeigen: Das Brauhaus, den Strom, die Weinberge. Der Hund Bussi hatte mich unwillig als Anhängsel seines Gottes akzeptiert und trottete überall hin mit. Wir wurden von allen Leuten gegrüßt und brauchten oft für hundert Meter Weg eine halbe Stunde. So ist es, wenn ein Souverän spazierengeht.

Als er starb, war ich sechs Jahre alt, aber er schien gar nicht zu fehlen. Er war unverändert anwesend, man sprach auch nicht in einem veränderten Ton über ihn, sondern wie immer: Heiter, respektvoll, ein bißchen sehnsüchtig, eben so, wie man sich über ihn unterhielt, wenn er für kurze Zeit weg war. Helden sterben eben nicht wie andere Leute.

Eine der tausendmal erzählten Geschichten, in der er die Hauptrolle spielte, war übrigens die von einer Beerdigung.

Sie kam zuverlässig fast jedesmal, wenn über ihn gesprochen wurde, und sie geht so: Ein Bekannter war gestorben, ein Honoratiore, große Leiche also und alle da. Die Totengräber hatten aber schlampige Arbeit geleistet und die Grube erwies sich als zu kurz. Wie die Sargträger auch erst unter entsetztem Schweigen und dann anschwellendem Gemurmel auch schieben und drücken mochten – der Sarg sträubte sich. Battist schaute sich das eine Weile an und riet dann nachdenklich aber weithin gut hörbar: Ei nemmt´n doch widder mit häm! Der will doch gor net!

Die Zeiten haben sich gewandelt, aber mein Held wird sich nicht wandeln. Er paßt sich nicht an, damals nicht und heute erst recht nicht. Er hat nicht wie gewöhnliche Tote eine Lücke hinterlassen, die sich mehr oder weniger schnell mit anderem schließt: Er hat die Zeiten genutzt und ist immer bunter und größer geworden und der Tod bedeutet wie für jeden vernünftigen Helden nicht Vergessen, sondern Bereicherung. Die Legenden werden beim Weitergeben ausgeschmückt, eigene Träume und Wünsche säen sich in ihnen aus und keimen. Ob man ihn letztlich wiedererkennt, seinen Helden? Das ist eigentlich gar nicht wichtig. Auf dem einzigen Photo, das ich von ihm besitze, trägt er – es ist ein Brustbild im Halbprofil – Anzug und Weste. Sein rasierter Schädel (Kämmen bedeutet Zeitverschwendung) sieht römisch aus, wie seine Nase, aber das hat er mit vielen seiner Landsleute vom Rhein gemeinsam. Durch die Zuckmayersche Völkermühle war auch er gegangen. Sehr seriös schaut er drein, das muß ihm ziemlich schwer gefallen sein. Vielleicht hat er das Bild seiner Mutter zuliebe machen lassen, die mehr als einmal geseufzt haben soll: Ich tät ja auch gern lachen, wenn der Narr nicht mein wär! Meinen Helden zeigt das Bild jedenfalls nicht. Aber Helden kann man eben nicht photographieren.

Mein erstes Buch

Nach dem ersten Buch fragt einen keiner. Jedenfalls nicht, wenn man nicht Fußballspieler, Schlagerstar oder in Rente geschickter Politiker ist. Niemand ist da, der dir nach drei oder dreißig Seiten sagt: Du, das wird ein Buch! Und wenn dich selber das Gefühl beschleicht, es werde eins, was man da in Wochen und Monaten aufgeschrieben hat, holen einen andere wieder auf den Boden zurück.

Bei mir ging das so: 1977 kündigte ich meinen sehr netten und ebenso festen Job beim Hessischen Rundfunk, nicht zu Unrecht verlangte mein damaliger Chef dafür eine Begründung. Ich gab ihm mehrere, Freiheit und Selbstverwirklichung, was man eben damals so sagte. Als ihn das nicht beeindruckte, griff ich zur Trumpfkarte: Und außerdem schreibe ich ein Buch! Er beugte sich vor, tätschelte mir kurz das Knie und sagte: Aber Kindchen, das tun wir doch alle!

Der Satz lehrte mich Zurückhaltung. Es war Frühjahr und es kam ein unvergeßlicher Sommer, den ich zum größten Teil auf einer Holzbank im struppigen Garten eines Vogelsberger Bauernhauses verbrachte, vor mir die Reiseschreibmaschine und neben mir einen sachte wachsenden Stapel Papier. Leider kann ich vor Schreibqual und zerkauten Nägeln, Gram im Herzen und fressenden Selbstzweifeln nichts berichten: ich hatte Geschichten, die sonst niemand erzählen konnte, weil keiner mehr da war, der von ihnen wußte. Es gab niemanden, der nach ihnen fragte, also auch niemanden, der mich hätte unsicher machen können. Zum erstenmal in meinem Leben tat ich etwas vollkommen Unverlangtes. (So heißen die dann auch: Unverlangt eingesandte Manuskripte. Das ersparte ich meinem, wie man sehen wird.). Ich diente keinem Zweck, ich erfüllte keine Pflicht, ich war das, was ich machte, niemandem schuldig. Um mich herum gab es nichts als den rauen Vogelsberger Sommer. Die beiden Schafe des Nachbarn schauten mir zu, während sie unser Salatbeet leerfraßen. Es war eine wunderbare Zeit. Vielleicht ist man nie mehr so bei sich wie beim ersten Buch, diesem Buch, nach dem einen keiner gefragt hat.

Während ich schrieb, in den sogenannten Waschteichen schwimmen ging, schrieb, Apfelmus kochte, schrieb und abends in der Dorfkneipe lernte, wie man Kümmerling trinkt, saß nicht weit weg in einem anderen Bauernhaus in einem anderen Dorf einer und schrieb auch. Mein Kollege Valentin Senger arbeitete an dem Buch, das dann unter dem Titel „Kaiserhofstraße 12“ berühmt werden sollte. Es war wie bei mir sein erstes Buch, auch ihn hatte niemand danach gefragt, aber das blieb nicht so: Er erzählte uns davon, er las vor, und wir fragten! Wir fragten viel, je mehr uns von seiner unerhörten Geschichte zu Ohren kam. Familie und Freunde nahmen an seinem dramatischen und rührenden Bericht von der listigen Errettung der Familie Senger in der Nazizeit teil. Komischerweise war ich nicht neidisch auf seine Nicht­Einsamkeit. Im Gegenteil, ich genoß die Gespräche und freute mich, wenn Vali temperamentvoll vorlas, um Rat bat, Möglichkeiten erörterte. Das ging oft bis spät in die Nacht und es war ein Geschenk, beim Entstehen dieses Buchs zuschauen zu dürfen.

Es kam mir merkwürdigerweise nicht in die Quere. Ich war vollkommen zufrieden mit dem somnambulen Zustand, in den ich mich jeden Tag fallen ließ, weit weg von allem, das etwas von mir hätte verlangen können. Das Schreiben war der luxuriöseste Autismus, den ich je erlebt hatte, ein gefährlicher, verführerischer und vollkommen verantwortungsloser Zustand. Nicht eine Sekunde dachte ich damals daran, die Sache zu einem Ende bringen zu wollen. Auch mögliche Leser oder Beurteiler kamen in meinen Gedanken nicht vor.

Natürlich konnte das kein Dauerzustand sein, ich mußte ja Geld verdienen und hatte einen Freund, Freunde, Familie, Tiere, kurz: Alltag. Vali war irgendwann mit seinem Buch fertig. Diese außergewöhnliche Geschichte war nun aufgeschrieben und mußte, fand ich, möglichst schnell in die Welt. So nahm ich sein Manuskript unter den Arm, ging zu Peter Härtling, der damals im Autorenbeirat des Luchterhand­Verlags war und sagte: Herr Härtling, entschuldigen Sie, ich habe sowas noch nie gemacht, aber ich finde, Sie sollten das lesen und dafür sorgen, daß es gedruckt wird.

Genau das tat Peter Härtling, gepriesen sei er, und Vali hatte zehn Tage später einen Vertrag. Einen Vertrag über ein Buch! In meinem Herzen begann ein winziger Wurm zu nagen. Mein Papierstapel war nur noch unwesentlich gewachsen. Es gab zur Feier des Vertrags natürlich ein Fest, ein Essen mit Valentin und Irmgard Senger, mir, der Kurierin, Peter Härtling und dem zukünftigen Lektor für Valis Buch ( Lektor! Er hatte jetzt einen Lektor! Wie das klang, so dazugehörend!). Die Feier war, nie werde ichs vergessen, beim Schnecken­Pit in Messel. In Messel wohnte auch jener Lektor, Thomas Scheuffelen. Zu ihm zogen wir weiter, und es war dort, wie man sichs vorstellt, eine Höhle aus Büchern, ach! Nüchtern war keiner mehr von uns, Literatur und Bergsträsser Wein ergeben zusammen eine besonders schöne Besoffenheit.

Spät in der Nacht faßte ich mir ein Herz und sagte zu Herrn Dr. Thomas Scheuffelen: Entschuldigen Sie, ich hab sowas noch nie gemacht, aber ich wollte Ihnen was sagen… Er unterbrach mich, seine Miene hatte sich verdüstert, auch glaubte ich, in seinen Augen Müdigkeit zu erkennen: Sie haben auch was geschrieben, sagte er mit Überdruß in der Stimme. Ich habs mir doch gleich gedacht.

Dennoch hatte ich zwei Wochen später einen Vertrag, oh Wunder. Und einen Lektor. Jetzt mußte ich nur noch fertig werden.

Museum in der Schnupftabakfabrik

Eröffnungsrede Februar 2008

Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Honoratioren, die ich nicht alle einzeln aufzähle – denn vor der Geschichte sind wir alle gleich und in der sind wir heute mittendrin. Man ist in Regensburg immer mitten in der Geschichte, und es gelingt auch den furchterregendsten Touristenheeren nicht, ihre flüsternde Stimme zum Schweigen zu bringen. Sie werden verstehen, daß es mir nicht gelingen wird, das Museumssegment in der Schnupftabakfabrik nur als weitere Attraktion dieser reichen Stadt zu betrachten. Es ist nämlich hier ein Stück meines eigenen Lebens zum Museum geworden, das hat für einen mit sich selber wenig denkmalshaft umgehenden Menschen wie mich durchaus eine gruselige Komponente. Schließlich habe ich bis zur Grass´schen oder kempowskihaften Selbstmonumentalisierung noch sehr viel Zeit, wahrscheinlich – hoffentlich ­werde ich ordentlich sterben, ohne bei Lebzeiten eine Kulturmumie zu werden. Und trotzdem ist es schön, diesen alten und neuinszenierten Regensburger Geschichtenort miterleben zu dürfen, eine Offenbarung von Geheimnissen, die eigentlich keine waren, aber nachdem ihre Zeit abgelaufen war: dann eben doch. Das ist schwierig zu ergründen, ich wills aber versuchen:

Die Schnupftabakbabrik war in meiner Kindheit ein ganz normaler Ort. Da ist gearbeitet worden, es gab eine Hierarchie und einen obersten Gott, der hieß Otto Christlieb. Der Untergott war mein Onkel Hans Weiß und seine gute Seele, rechte und linke Hand und die Königin der Leberknödelsuppe, das war Fräulein Auburger, genannt Clara. Es gab Tabakarbeiterinnen, deren Wochenlohn sich die Männer am Tor abholten und es gab Fräuleins im düsteren, holzgetäfelten Sekretariat. Das waren alles höchst lebendige Menschen, die ich oft gesehen habe. Es war normal, daß die kostbaren chinesischen Tabakfläschchen ziemlich ungeschützt in Vitrinen standen und daß alle, die Götter, die Fräuleins, Clara und die Arbeiterinnen in den gleichen unglaublichen Duft eingehüllt waren. Natürlich, das wußte ich, war es nicht der Tabak, der so exotisch und herrlich roch, sondern die Soßen, mit denen er fermentiert wurde. Das war alles normal, lebendig und ich dachte, es würde nie enden. Nicht die freitäglichen festlichen Essen, nicht die auch tagsüber brennenden Lampen, nicht die Winterkälte und die Sommerkühle, nicht der Vorplatz mit der einen losen Fliese, nicht das Kommen und Gehen in den unteren Räumen. Draußen gab es Leute, die schnupften viel Tabak und auch die würde es, dachte ich, immer geben. Das war nicht so, Sie wissen es, es hatte ein Ende und wurde sachte zu Geschichte, und weil das Haus in jeder Hinsicht so außergewöhnlich war, erwies sich die Bewahrung als schwierig. Vor zwanzig Jahren habe ich schon einmal eine Abschiedsklage geschrieben, da nannte ich das Haus einen Saurier, der nicht leben und nicht sterben kann. Nun lebt er aber doch wieder und hat in seinem Inneren ein Museum ­wie ein kleines, versteinertes Saurierei.

Es gibt, wie wir wissen, zweierlei gute Konservatoren, die Gleichgültigkeit und die Liebe. In der untergegangenen DDR konnten wir sehen, was für unglaubliche Schätze die Gleichgültigkeit für die Nachwelt aufbewahrt hat. Mit dem Zandthaus wars lange Zeit nicht anders. Keiner kannte es wirklich und keiner interessierte sich dafür. Eine riesige Geschichtsraumkapsel lag mehr oder minder unbeachtet mitten in der Stadt. Ein bißchen störend, verstörend auch. Es blieb nicht so, wir alle wissen es, und nun ist es ein Haus geworden, in dem wieder gelebt wird. Das ist gut, auch wenn ich die Schlupflöcher noch nicht kenne, in die sich meine Geister fürs erste verkrochen haben. Denn, so furchtbar es klingt: Ich bin übrig, von damals. In mir sind die Geschichten aufgehoben, jedenfalls die aus der jüngeren alten Zeit. Wo mögen die aus der alten alten Zeit geblieben sein? Denn Tabakfabrik: Das war ja nur eine Spanne im Leben des Sauriers, wenn auch keine ganz kurze. Das Museum zu haben ist gut, denn Geschichten brauchen Bilder. Aber Gegenstände aufzubewahren und ansprechend zu präsentieren genügt nicht, besonders nicht in diesem Fall, da – und das gibt es sehr selten – in einem bewohnten, belebten Komplex ein Fenster in dessen Vergangenheit aufgemacht worden ist. Ein Museum, ein document wie dieses darf kein Sarg sein, sondern muß ein Tanzplatz der Gedanken und Erinnerungen werden. Gegenwärtig genug ist ja vieles noch, die Nähe von Arbeiten und Wohnen, die verblüffende Brauchbarkeit alter Technik. (Ich habe die Geschichte über den Aufzug oft erzählt. Er stammte von achtzehnhundertirgendwann und streikte niemals. Für seine alljährliche technische Abnahme bekam der Herr vom TÜV jedesmal eine Flasche Schnaps.)

Ob die, die hier jetzt wohnen ahnen, wieviel gelebtes Leben in diesen Mauern steckt und manchmal rauswill? Die Menschen, die hier gearbeitet, geliebt, gehaßt, gefeiert, gelacht und geweint haben, die hier auf die Welt gekommen sind und sie wieder verlassen haben – sie haben ein Recht auf unsere Neugier. Das nämlich ist sichtbar gemachte Geschichte, und unsere Neugier ist deren Lebenselixier. Ich habe es immer gewußt: Dieses Haus, dieses ungeheure Gemäuer, dessen Dimensionen einer fernen und wilderen Zeit geschuldet sind, ist für Überraschungen gut. Das war mir schon als Kind klar, als ich den Raum mit den Glasscherben aus dem Mittelalter entdeckte, das Zimmer mit den hundert Tapeten übereinander oder später die leuchtenden Fresken, die aus den Löchern im jahrhundertealten Putz guckten. Es war lang allein mit seinen Wundern, dieses Haus, das war gut, die Gleichgültigkeit, von der ich vorhin sprach, war kein schlechter Konservator. Jetzt aber soll es die Liebe sein, die dankbar erkennt: Dies ist ein Haus wie keines! Und in seinem Inneren zeigt es: Ein Stück seiner Geschichte!

Ich danke Ihnen.

Nach vierzig Jahren

Eröffnungsbemerkungen zur Ausstellung über 68

So war es – war es so?

Dies wird kein Manifest, ganz bestimmt nicht. Kein teach­in, keine Schulung nur ein paar eher erstaunte Gedanken, wie um Himmels willen es passiert sein kann, daß es nun im Museum gelandet ist, das Jahr. Einfach ein Jahr – seine Attribute bekam es ja erst später.

Das offenbar nicht totzukriegende Jahr Neunzehnhundert­achtundsechzig ist meiner Erinnerung nach nicht schneller und nicht langsamer vergangen als die Jahre davor oder danach. Achtundsechzig hatte siebenundsechzig begonnen, oder eigentlich fünfundsechzig, für mich war es vierundsiebzig aus mit achtundsechzig. Bei anderen hatte es früher ein Ende und bei manchen hat es offenbar bis heute nicht aufgehört. Man sieht das an einer gewissen unerbittlichen Jugendlichkeit mit Haartrachten, denen das Grundmaterial ausgegangen ist und anderen modischen Mutproben.

Achtundsechzig ist zu einer Art Flohmarkt geworden, das ist nicht schlimm. Wenn man den Tod bedenkt, wird letztlich alles zum Flohmarkt. Heute aber sollen wir die edlere Form des historischen Tableaus betreten: Das Museum. Es wird niemanden erstaunen, daß es für einen lebenden Menschen ein sonderbares Gefühl ist : Man sieht ein Stück seiner eigenen Jugend, das längst in den Nebeln des Lebens, der Erfahrungen, des Alters und in diesem Fall vor allem der Legenden undeutlich geworden ist, als Präparat wieder – gleichsam ausgestopft. So überdeutlich in einer Pose festgehalten wie ein ausgestopftes Tier, die Gefahr dabei ist aber, daß das musealisierte Lebenssegment genau so tot ist. Für ewig in interpretatorischer Starre gefangen.

Es ist so viel geschrieben worden, grade in letzter Zeit, über dieses Jahr, das auf dem die Alten sitzen wie Geizhälse und ihre Deutungshoheiten verteidigen. Merkwürdigerweise hat vieles von dem Geschriebenen einen erbitterten Unterton, manchmal einen larmoyanten. Aber es steht mir nicht zu, über diese späten literarischen Verarbeitungen und Abrechnungen zu reden. Ich habe wenig davon gelesen, und das wenige hat mir gezeigt: Es ist wie bei einem normalen Familienfest: Ein und die gleiche Geschichte, von drei verschiedenen Tanten und Onkeln erzählt, wird zu drei völlig verschiedenen Geschichten, und die Nichten und Neffen langweilen sich. Achtundsechzig ist ein Konstrukt: Deswegen darf es ins Museum. Es ist ein Sack, in den viel hineinpaßt, wer hätte das achtundsechzig gedacht? Sie werden verzeihen, daß ich in der mir vorgegebenen Viertelstunde diesen Sack nicht aufbinden und ausschütten will– im Museum wird einiges vorzufinden sein, die etwas rührende Anmaßung, die falschen Götter, die sattsam bekannten Ikonen.

Was man nicht ins Museum tun kann, weil es sich wohl entzieht, ist das Gefühl, Teil eines Organismus gewesen zu sein, der langsam sichtbar und hörbar wurde und das von sich selber nicht geglaubt hätte. Das war erstaunlich, erinnere ich mich, und an Splitter dieses Gefühls: Eine Demo am amerikanischen Konsulat zum Beispiel, man saß auf einem Mäuerchen und eine Frau schrie wütend aus dem ersten Stock: Sie sitzen auf meinem Besitz! Unser Gelächter danach klingt mir heute noch schön in den Ohren. Ich wäre vorher nie auf die Idee gekommen, mich über das Wort „Besitz“ vor lachen zu biegen.

Aber: Keine Anekdoten. Das habe ich mir vorgenommen, denn Achtundsechzig, was immer es war – ein Anekdotengebirge war es allemal. Und wenn sich die Helden von damals jetzt in dröhnender Zerknirschtheit zu Sündern erklären, hat das auch etwas Anekdotisches und nimmt sich viel zu wichtig. Gibt es jemanden, der sich an unsere Feiern "25 Jahre Achtundsechzig" erinnert? Ich glaube, das war im Römer. Auch nicht übel und nicht frei von Komik. Schon erstaunlich, auf wie vielen Wegen man es in den Römer schaffen konnte! Damals habe ich gesagt, Achtundsechziger sei doch kein Beruf. Mittlerweile bin ich da nicht mehr so sicher. (Generation Golf zu sein ist allerdings auch keiner, der Begriff hat es aber nicht zu vergleichbarer Dauerpräsenz gebracht, was die Angehörigen eben jener Generation, glaube ich, erbost). Epochen veralten, das liegt in ihrer Natur. Das sanfte Licht der Verklärung kann zwar die Falten mildern, es bringt sie aber nicht zum Verschwinden. Die Zeit, die jetzt, heute, ins Museum gesteckt wird, ist zwischen Verteufelung und Verklärung irgendwie steckengeblieben, ich fürchte, das wird sich auch nicht ändern. Vielleicht grade dann nicht, wenn man sie selbst erlebt zu haben glaubt (ich sage, erlebt zu haben glaubt, denn das behauptete Große Ganze sieht man beim Leben nicht und spürt es auch nicht, deswegen mißtraue ich Resumees immer, und nichts ist so zu Tode resumiert worden wie dieses verdammte Achtundsechzig!).

Es ging, mehr als die Wissenschaft das wahrhaben will, um das Phänomen Jugend. Erst einmal ohne vordergründig politische Konnotation: Es hatte ja lang keinen Wert und keinen Reiz, jung zu sein. Am Beginn des letzten Jahrhunderts ließen sich die jungen Intellektuellen Bärte und Bäuche wachsen, um ernst genommen zu werden. Das Ziel aufs innigste zu wünschen hieß Erwachsensein, tausendfach ist das literarisch belegt: Jugend war Tragödie, Frühlings Erwachen eine schwierige Angelegenheit, umzäunt von Verboten und Zurichtungen wuchs das Menschenpflänzchen vor sich hin. Die Jungen damals, wir, haben mehr oder minder unbewußt die Macht unsere Spurenlosigkeit entdeckt. Mündig, aber ohne braune Flecken. Handlungsfähig, aber ohne Naziverkrüppelungen. (Das wird jetzt mancherorts anders gesehen, ich weiß. Nach vierzig Jahren kann ich aber diese nachgetragene Interpretation nicht ganz ernstnehmen). Und ich denke, es begann eine bis dahin nicht gekannte Ausdehnung des Jungseins. Je mehr die Alten, die Schuldigen also, ihre Macht über den Alltag zu behaupten versuchten, desto entschlossener entriß man ihnen, was sie fest in Händen zu halten glaubten. In aller Eile und manchmal ziemlich schlampig wurden alle möglichen Felder besetzt, Erziehung und Kunst und Geschlechterkampf und Theater und natürlich die Universität. (Ich darf vielleicht anmerken, daß an der Universität Mainz, an der ich damals zu studieren versucht habe, Frauen nicht zum philosophischen Oberseminar zugelassen wurden. Der Mainzer Oberphilosoph Fritz Joachim von Rintelen meinte, daß für Frauen das Proseminar reiche. Lehrerin konnte man damit werden und das war schließlich genug.) Dies nur als Illustration zu dem spaßigen Spruch vom Muff von tausend Jahren, der nun museal zu bewundern sein wird. Wir hatten ihn riechen können, diesen Muff.

Am topos Achtundsechzig hat mich immer gestört, daß in ihm so viel Widersprüchliches zusammengebunden wird, das schon damals nichts miteinander zu tun haben mochte. Mir zum Beispiel waren sämtliche K­Gruppen so fremd wie der Mond. Und verdutzt nehme ich zur Kenntnis, daß Herrschaften, die mir als schneidige K­Grüppler gut in Erinnerung sind, jetzt alles – auch das, was sie gar nicht kannten – entschlossen in die Gegenrichtung harken. Dieses merkwürdige Jungsein der damaligen Zeit war nämlich über keinen Kamm zu scheren. Und ob jemand fünfzehn, fünfundzwanzig oder dreißig war – und sich jetzt zu den Achtundsechzigern addieren läßt – macht einen Riesenunterschied. Ob einer in der Lehre, an der Uni, im schwäbisch – protestantischen Elternhaus, am Theater, in der Großstadt oder auf dem Dorf war: Etwas gerochen und gespürt haben wohl alle, obwohl die Kommunikation von heute noch in weiter Ferne lag. (Wie es wohl gewesen wäre: das ominöse Achtundsechzig im Netz? Demo mit Fotohandy?)

Vielleicht war es die letzte Ikonen produzierende Zeit, in krudem Schwarzweiß, ohne postproduction oder hundertausendfaches Umwälzen in den Medien. Kann sein, daß ich das nur denke und längts eine neue Art von Authentizität lebt, an die ich nicht glauben kann, weil ich sie nicht verstehe. Kann alles sein. Es stellt sich die Frage, wie lange man noch auf dieses von den Spinnweben der Beschwörungen umwickelte Jahr zurückzukommen wünscht? Ich muß zugeben, daß mich eine Ankündigung (und im Papierproduzieren sind die heutigen Interpreten den damaligen Akteuren durchaus ebenbürtig) – also eins der zahllosen Begleitprogrammangebote zu einem melancholischen und politisch sehr unkorrekten Lachanfall bewogen hat: Da steht: (und zwar auf diesem freudlos grauen und enorm zeitbezüglichen Umweltschutzpapier): Disco­Party „Children of the Revolution“ am 1. Mai im Sinkkasten ­ Rockmusik sei der soundtrack der Protestbewegung gewesen, und so was alles, also da könnten wir hingehen und ganz zeitgemäß oder nostalgisch einen draufmachen, soweit unsere Arthrose oder die Bypässe es zulassen, deswegen offenbar steht unter der Einladung in den Sinkkasten: Der Zugang ist nicht rollstuhlgerecht. Ich weiß, es gehört sich nicht, darüber zu lachen. Ich fand es trotzdem ganz wunderbar, und daß dann immer wieder von der Bewegung die Rede ist, gibt der Sache noch eine etwas schräge Würze.

Vielleicht muß man ja dankbar sein, daß die eigenen Erinnerungen schon bei Lebzeiten ins Museum dürfen. Und vielleicht ist es auch schön, daß der Sommer für manche nicht zu enden scheint. Es hat jedenfalls in keiner Epoche ein so heharrliches Drinbleiben wollen eines Teils ihrer Teilnehmer gegeben. Immer wieder wird das Recht – oder Unrecht gehabt haben überprüft, aus Saulussen werden Paulusse allerdings umgekehrt, offenbar ist es furchtbar schwer, sich vom Bewußtsein, man könne die Welt beurteilen, zu verabschieden. Ach, die zarte Göttin Skepsis hatte schon damals schweres Spiel. Und so möchte ich schon heute meine Freude anmelden auf die zu erwartenden Verantaltungen im Jahre 2018, ein halbes Jahrhundert Achtundsechzig. Bis dahin wird der Sinkkasten einen rollstuhlgerechten Zugang haben. Und wenn wir nicht im Museum gestorben sind, leben wir dann auch noch. So wird es ausgehen, das merkwürdiges Märchen von Achtundsechzig.

Ich danke Ihnen.

Nur über die Straße

Um von der einen Seite der Eschersheimer Landstraße auf die andere zu kommen habe ich ungefähr zwanzig Jahre gebraucht. Am Dornbusch spielte sich der größte Teil meines Lebens ab. Ich bin immer noch da. Es gibt eine Zeitung, die „Wir am Dornbusch“ heißt. Das ist ein rührender Versuch, uns Dornbuschbewohner über den letzten Rest deutscher Teilung hinwegzutrösten. Bei uns ist sie nämlich noch sichtbar, auch wenn unterirdische Gänge für die Illusion von Bewegungsfreiheit sorgen sollen. Kein Wunder, daß die keiner benutzen will, sondern immer mal wieder Rentner sich oberirdisch in den Tod stürzen. Die Gänge, die die beiden voneinander getrennten Teile eines ehemals zusammen­gehörigen Stadtorganismus verbinden sollen, sind so unglaublich trostlos, so ausweglos häßlich, daß viele lieber auf ihrer Seite bleiben. Man kann bei ruhigerem Verkehr seinen Liebsten auf der anderen Seite Trostworte zuschreien.

Als ich ein Kind war, wohnten wir in der Mechtildstraße, einer stillen, netten, bürgerlicher Straße, die nahe beim Hessischen Rundfunk lag. Zur Schule fuhr ich wenige Stationen mit der Straßenbahn, an der Ecke gabs ein Kino mit einer anscheinend sehbehinderten Kassiererin, die uns in die erst­ab­sechzehn­Filme ließ, ohne mit der Wimper zu zucken. Es war eine angenehme Kindheit am Dornbusch, alle hatten Gärten und keiner Geld. Der Gemüsehändler verkaufte sein Grünzeug billig, es gab einen Laden, in dem Laufmaschen repariert wurden (mit einem Nädelchen, das die entwischte Masche den ganzen Strumpf hinauf wieder einfing, was ich sehr gern sah und lernen wollte, es schien eine nette, ruhige Arbeit zu sein).

Mein Großvater, der in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Frankfurt studiert hatte, erzähle von Landhäusern und Weizenfeldern am Dornbusch. Von mächtigen Bäumen, die die Eschersheimer Landstraße gesäumt haben, erzählte man noch zwei oder drei Generationen später.

Der Dornbusch ist kein Viertel, er ist eine Idee. Er ist ein Beweis für die Beharrlichkeit und Leidensfähigkeit der Menschen. Wir halten es für normal, an Verkehrsadern zu leben, als Störfaktor. Ohne diese ganzen Ampeln, Über­und Unterführungen, ohne die Fußgängerknöpfe und Halte­signale, Busspuren und Radwegmarkierungen ginge es wesentlich schneller vorwärts auf der Hauptverkehrsader, zu der die Eschersheimer Landstraße längst geworden ist. Das weiß jeder, aber die Illusion von Menschenfreundlichkeit soll doch aufrechterhalten werden, und das funktioniert auch ganz gut. Die Ader entlang, hinter dem ganzen Verbindungstheater, dieser mühsamen Aneinanderstückelei einer vor langer Zeit auseinandergehauenen Welt, haben sich Biotope der Bürgerlichkeit gehalten. Die Gärten können sich sehenlassen, auch wenn der Designerwahnsinn mit schneeweißem Streukies, auf dem sich zwei Buchskugeln langweilen, nicht vor unserem Stadtteil haltgemacht hat. Überhaupt: Seit es eine sogenannte Erhaltungssatzung gibt, sind mehr schöne alte Häuser versaut worden als in den anarchischen Jahrzehnten zuvor.

Aber: Vergangenheit. Die ist hier etwas virtuelles, weil jeder seinen eigenen idealen Dornbusch beschreibt. Und weil die Menschen hier anscheinend haltbarer sind als anderswo, gerät die Beschwörung früheren Glanzes ins Märchenhafte. Man kann ja die erzählenden sehr alten Damen und Herren nicht widerlegen.

Wie gesagt: da war meine bewußte Kindheit (die frühe, Regensburg, blieb davon unberührt) an der rive droite des Dornbuschs. Von damals, da die Teilung im Gang, aber noch nicht vollzogen war, habe ich keinerlei Erinnerungen an die rive gauche, an der ich jetzt wohne. Warum das so ist? Ich bin immer erst auf der Höhe meiner Schule, also an der Fürstenbergerstraße, ans gegenüberliegende Ufer gegangen.

Vielleicht war ich dornbuschfern nie richtig daheim, sondern in mehr oder minder angenehmen Zwischenwelten. Das Studium, die ersten Reisen, die ersten Jobs: Alles vorläufiges Leben, Herumprobieren, Vagabundierereien aller Art. Das Leben hatte ein Einsehen und schickte mich zurück an den alten Ort, ich bekam einen Job beim Hessischen Rundfunk. Bald darauf bot mir jemand eine Wohnung im Dichterviertel an, auf der anderen Seite der Grenze. In der Wohnung lebte noch eine Familie. Sie bauten ein Haus, was unabsehbare Wartezeit bedeuten würde. Die Wohnung hatte einen Teppichboden von der Farbe schwerer Hautkrankheit, die Küchenwände waren schwarz und klebrig von Bratfett. Aber ich war wieder am Dornbusch, und es gab einen Garten. Die beiden Trümpfe stachen. Und wie Hölderlin vor seinem Turm (nein, nicht literarisch, nur ganz bescheiden biografisch gemeint), ahnte ich bei meinem Einzug nicht, daß ich so viele Jahre hier verbringen würde.

Häuser entstanden, schön waren sie meist nicht. Häuser wurden erneuert, was ihnen nicht immer bekam. Freunde siedelten sich an. Bäume wurden gefällt. Die Amerikaner entschwanden und ließen uns Katzen und Hunde da. Die Belegung ihrer Wohnungen führte zu einem skurrilen Streit zwischen denen, die sich ihre Villengegend erhalten wollten und den Multikultieuphorikern. Im Lauf der Jahre haben sich beide einander angenähert, in sanfter Erkenntnis beidseitiger Irrtümer.

Bäume wurden gepflanzt, und die dunklen Nadelbäume der Nachkriegszeit machten lichteren Gewächsen Platz. Es mangelte dieser um eine mächtige Kreuzung gruppierten Gegend immer an eindeutigem Charakter, das ist ihr Reiz. Der Dornbusch war und ist zum Teil noch housing area, Villenviertel, Kneipengegend (die allerdings auch aus den erinnerten, längst verschwundenen Kneipen besteht: Wißt Ihr noch? Der Charlie? Der Schlund?), sozialer Brennpunkt, Rentnerparadies, Christengemeinde, Schulstandort, Tante­Emma­Biotop und Supermarkt in einem. Der Dornbusch hat keine Mitte, kein Wahrzeichen, nur die trotzige Beharrlichkeit seiner Anwohner. Keine Mitte, aber einen Sender, und das Funkhaus am Dornbusch ist ein Organismus für sich. Sein Einfluß auf den ihn umgebenden gesichtslosen Kiez ist schwer auszumachen, zweifellos aber da. Früher sah man die Einwohner in der legendären Goldhalle herumstehen und warten, ob Kulenkampff, Wolf Schmidt oder Caterina Valente vorbeikämen. Das geschah sogar manchmal, dann war man dankbar, hier zu wohnen, so nah dran am großen Leben. Einmal kam Rudolf Nurejev. Den kannte aber niemand. Vielleicht ist die Goldhalle, wegen ihrer goldenen Säulen schon früh „Hundehimmel“ genannt, das geheime Herz des Dornbuschs. Hätte ja Bundestag werden sollen, das ganze, aber jetzt ist das egal, der wäre auch von hier aus nach Berlin gezogen. Außerdem wissen das heute nur noch wenige.

Wenn man – von zahlreichen Ausflügen in die Welt einmal abgesehen, und die sind nötig, sonst hätte man ja keine Vergleiche – mit und in einem Viertel älter wird, das so wenig folkloristischen Glanz zu bieten hat wie der Dornbusch, erinnert man sich eher seiner Menschen. Der alte Herr Schwarz mit seinem Krückstock, pensionierter Amtsrichter, der jeden Mittag in der gleichen Pinte aß und hernach über das Essen, das Leben oder die Unbarmherzigkeit des Alters oft so erbittert war, daß er beliebigen Passanten die Krücke über den Kopf haute. Oder die Frau mit dem stolzen Busen und den Boxerhunden, die mit niemandem außer ihren Hunden sprach, der ewig betrunkene, würdevolle schwarze GI mit der Katze auf der Schulter , das Kind, das täglich einmal seine Brille verlor, deswegen jeden Mittag ausgeschimpft wurde und dem man diesen Frust, als es ein junger Mann geworden war, immer noch anmerkte – ach, überhaupt all die Kinder, die man vom wachsenden Mutterbauch bis zur fehlenden Lehrstelle oder zur zu frühen Ehe mitgekriegt hat! Es lehrt einen Demut zu sehen, daß man die Häuser immer wieder neu anstreichen und ihnen frische Balken einsetzen kann, uns aber, ihren Bewohnern, nicht.

Kaddish, würde der große Dichter Paulus Böhmer sagen, Kaddish für die hundertjährige Dichterin Mile aus der Eichendorfstraße, für den Philosophen mit dem gebeugten Gang, der ruhelos das Viertel durchmaß und so freundlich zu sich selber sprach wie ich es nie vorher bei einem Menschen gesehen hatte. Kaddish für Sebastian, der nur neun Jahre alt geworden ist und während seiner langen Krankheit zu einem Weisen wurde, vor dem wir alle Ehrfurcht hatten, weil wir wußten, daß er uns vormacht, wie man stirbt. Kaddish für die Frau mit den dicken Beinen und der sanften Stimme, die Weinbergpfirsiche verkaufte, weil sie sie liebte, obwohl sie wußte, daß die nicht haltbar sind und sie fast alle würde wegwerfen müssen. Kaddish für meinen Griechisch­und Lateinlehrer Heinz Imiela, der mit all seinen Platos und Herodots und Aischylosausgaben hier lebte und elend zugrundeging, nein, nicht elend, denn die Sätze seiner alten Sprachen trugen und trösteten ihn bis zum Schluß. Sum quod eris / fui quod es

Klar: Wir sind, was sie waren und werden sein, was sie sind. Man sollte öfter umziehen, dann hat man nicht solche Vergänglichkeitsgedanken. Aber melancholisch muß man nicht werden in dieser Gegend, es wächst das Rettende, man muß es nur zur Kenntnis nehmen. Und sich amüsieren, wenn junge, schwarzhaarige Damen in knallengen Jeans und Tanktops auf der Höhe Eichendorffstraße hastig in großen Taschen wühlen, trutschige Regenmäntel und Kopftücher zutage fördern und sich, während sie nach der Adresse des iranischen Konsulats fragen, in artige Muslimas verwandeln. Und immer wieder sind da vielversprechende Bäuche, deren Inhalt nach unbegreiflich kurzer Zeit Fußball spielt und einen mit: Hallo Frau! begrüßt. Sowas kriegt man natürlich nicht mit, wenn man seine Orte oft wechselt, wie es in der sogenannten mobilen Gesellschaft geboten ist. Auch nicht die vielen, mutigen Existenzgründungen, gut, nicht alle haben in den Reichtum geführt, aber es sind doch immer wieder hoffnungsvolle Ansätze zu sehen. Antiquitäten werden ebenso liebevoll angeboten wie Trachtenklamotten, vorher wohnten da Delikatessen oder ein Versicherungsbüro, das Leben geht immer weiter, hinter der nächsten Ecke kann schon das Glück lauern. Das Glück am Dornbusch: Es kommt einigermaßen unauffällig daher, so wie es bekömmlich ist. Richtiger Protz kommt hier nicht gut an, eher eine Art Wohlhabenheit, die sich nicht aufspielt. An der rive gauche gibt es davon mehr als an der rive droite. Über Menschen, die ihren Besitz mit Natodraht und fetten Alarmanlagen zur Schau stellen (auch solche wohnen hier) – wird sehr gelacht. Die Alteingesessenen wissen über die betreffenden Großtuer köstliche Skandalgeschichten zu erzählen und dem Hund wird die nötige Zeit gelassen, an grade diesen Mauern das Bein zu heben.

Warum man hier so lang geblieben ist? Warum man selbst in den Paradiesen der Erde dieses ruppige Stück Frankfurt nicht vergißt? Vielleicht, weil es einen nicht anstrengt. Es ist häßlich, aber menschenfreundlich. Es hat viel gnädiges Grün, gut, nichts wirklich aufregendes, einfache Leute­Kinder­und Hundeparks. Es hat eine Menge Traumpotential. Man kommt hierher und denkt ans weggehen, man hält es für eine Durchgangsstation, gute Verkehrsanbindung, gute Wohnungen, ganz akzeptable Läden. Wie gesagt, nichts aufregendes. Irgendwann wird dann das Stückchen Dornbusch, in dem man sich eingerichtet hat, unverzichtbar. Man kann weg, denkt man immer noch, es hält einen hier ja nichts. Das stimmt aber nicht. Mich hat hier etwas mächtiges gehalten, ich habe keine Ahnung, was. Vielleicht die wachsende Einsicht, einst sowieso wegzumüssen. Warum also nicht bis dahin hier bleiben?

Sumsemann und ehrbare Dirne

Erinnerungen einer damals Vierjährigen
an das Regensburger Theater der Nachkriegszeit

Am Mittwoch, dem 3. März 1948 hatte mein Vater seine erste Premiere als Bühnenbildner in diesem Haus, am Stadttheater Regensburg. Man gab Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach – die Oper hätten sie drei Jahre vorher noch nicht spielen dürfen.

Mein Vater Rudolf Küfner, 27 Jahre alt und grade aus der englischen und amerikanischen Gefangenschaft zurückgekehrt, wird auf dem Theaterzettel von damals als Gast geführt. Schon am 16. März des gleichen Jahres hat es damit ein Ende, nun gehörte er richtig dazu. Und ich auch, das würde ich bald merken.

Jetzt gab es drei wichtige Häuser in meinem noch nicht ganz vierjährigen Leben: Die Eisenhandlung Christlieb & Fischer in der Malergasse 2, gleich beim Neupfarrplatz, mein Großeltern­und dann, nachdem sich der junge Mann wieder eingefunden hatte, ein bißchen auch Elternhaus, das mächtige, mittelalterliche Zanthaus, die Tabakfabrik Gebr. Bernard in der Gesandtenstraße 2, wo mein allerwichtigster Onkel, der Hans, residierte ­und das Theater am Bismarckplatz. Man braucht nur wenige Minuten von einem Ort zum anderen, allerdings: Das große Haus am Neupfarrplatz existiert nicht mehr. Das ist aber gar nicht so traurig, wie es klingt: So gerinnt die Kindheit zu reiner Erinnerung, niemand kann ihre Spuren manipulieren, Sentimentalität verbietet sich und man entgeht der peinlichen Sehnsucht nach handgreiflichen souvenirs aus der verlorenen Zeit. Wenn von ihr nichts mehr da ist, kann man sich guten Gewissens und unbeeinflußt auf die Suche nach ihr machen.

Vergegenwärtigen Sie sich, wie kurz der Weg ist von der verschwundenen Kindheitsgasse zum höchst gegenwärtigen Theater? Neupfarrplatz – Gesandtenstraße bis zu ihrem Ende ­und da ist es dann schon. In der Mitte des Weges, bei dem zerschundenen, schädlichen Einflüssen hilflos ausgelieferten und im Koma versunkenen zweiten Kindheitshaus, Gebrüder Bernard, lege ich jedesmal eine Gedenkpause ein. Tausende Kubikmeter Geschichten schlafen da, vor sich hin bröckelnd und große Kunst, nämlich wunderbare Fresken aus drei Epochen verbergend, im Patrizierhaus der Zante, in dem ich wohnte, als die Malergasse dahingesunken war.

Welch eine Kulisse bietet das alte Patrizierhaus, in dem sich jahrhundertelang unzählige Tragödien und Komödien ereigneten! Und da ich mich, an dem Riesengemäuer innehaltend, längst mit den Möglichkeiten meines letzten noch lebendigen Kindheitsortes, dem Theater, beschäftige, will ich ich Ihnen meinen verrückten Theatertraum nicht vorenthalten: In den Resten der alten Tabakfabrik die Carmen! Das wäre eine Sensation!

Nur ein paar hundert Schritte sind es vom Kindheitshaus an der vermodernden großen Vergangenheit entlang bis zu dem Ort, an dem wir heute sind, diesem zweihundert Jahre jungen Theater, in das ich vor sechsundfünfzig Jahren Einlaß erhielt. Immerhin ein gutes Viertel seiner Lebenszeit begleite ich es schon, da wird einem ganz zweierlei zumute, wenn man drüber nachdenkt.

Wenn einen das Leben früh ins Theater lenkt und man ihm treu bleibt, bedeutet das, seine Erinnerungen nicht nur behalten zu dürfen, sondern sie immer wieder neu, jung und anders wahrzunehmen. Das war das Geschenk, das mir 1948 dieser dürre, schwarzhaarige junge Mann mitgebracht hatte, von dem man mir sagte, er sei mein Vater. Ich war bis dahin in der großen und scheinbar unversehrten Familie sehr gut ohne einen Vater ausgekommen, und vielleicht hätte er ohne das Theater niemals den Weg in mein ziemlich hartes Kinderherz gefunden.

Aber da war es nun, am anderen Ende der Gesandtenstraße, das elegante Träumeschloß, bevölkert von Menschen, die sich als viel spannender herausstellten als der gesittete Freundeskreis meiner Großeltern. In die bürgerliche Wohnung im dritten Stock des Gründerzeithauses in der Malergasse strömte das fahrende Volk, die Künstler, die Boheme: Und das Bürgertum ergab sich ihnen, wenn auch verwirrt. Das, was geschehen und drei Jahre zuvor blutig zu Ende gegangen war, hatte die ehrbaren Leute durcheinandergebracht – und das Theater, das aus dem Untergang wieder auferstandene, hatte seine Chance.

Kommen wir zurück zu jenem Märztag des Jahres 1948: Vorhang auf für die schöne Oper Hoffmanns Erzählungen des Juden Offenbach, Vorhang auf für die vier unendlich langen Kinderjahre, in denen ich etwas erlebte, das ich selten verstand, aber immer liebte: das Theater, dieses Theater.

Die Kritik über diesen Abend ist mir erst Jahrzehnte später in die Hände geraten:

Rudolf Küfner hat an der Gesamtwirkung des Abends entscheidenen Anteil. Sein Meisterstück war zweifellos das physikalische Kabinett ...mit seiner Polyphonie gerader und geschwungener Linien und der dezenten Farbigkeit. Doch auch Crespels bürgerlicher Raum war anziehend gestaltet, wie überhaupt Geschick und Geschmack eine gepflegte Atmosphäre schufen, die uns unsere Armut vergessen ließ.

Dieser Satz steht, ganz beiläufig und ohne Betonung, mitten in der etwas altväterischen, liebevollen Rezension von Joseph Thamm. Uns aber, nach langen Jahren, läufts kalt über den Rücken – das Theater hat die Armut vergessen lassen, für ein paar wunderbare Stunden. Später wird dieses Lob in Quarantäne und unter Strafe stehen, denn je besser es dem Publikum ging, desto strenger und pädagogischer gab sich das Theater. Satte Zuschauer waren zum Erschrecken, nicht zum Sich­begeistern da.

Die Armut von damals gibt es nicht mehr, und wenn, sucht sie nicht im Theater nach Hilfe. Aber neuen Mangel gibt es doch, Armut an anderen Fronten, die nicht Brot entbehrt, aber Hirn­und Seelenspeise. Erlebnisse, Anmut, Abenteuer und notabene Schönheit in einer abscheulich zweckdienlichen Welt.

Damals haben die Zuschauer wahrscheinlich über den gesellschaftlichen Auftrag des Theaters keine Sekunde nachgedacht. Sie wollten wohltönendes, vielfarbiges Vergessen, gleichzeitig aber endlich einen Zugang zu der Theaterkunst, die ihnen tausend Jahre lang vorenthalten worden war.

Die Verlegenheit über die allerjüngste Vergangenheit, von der man aber lieber nichts hörte, trieb manch seltsame Blüte. So schreibt ein M.M.Rh. zu Offenbachs Oper, ein „deutscher Soldat„ – ich nehme an, er selber –„erinnert sich mit Freude dran, im Jahre 1941 auf dem Grabe Jacques Offenbachs im Montmartre­Friedhof zu Paris im Voraus ein Blumen­sträußchen niedergelegt zu haben.“ Über den Ausdruck „im Voraus“ habe ich lang grübeln müssen. Ahnte der „junge Soldat“ wie der Wahnsinn enden würde? Und daß nicht die Barbaren siegen würden? Hat er sich auf dem Friedhof von Montmartre bei dem verfemten Komponisten entschuldigen wollen? Wußte er, daß letztendlich doch die Kunst siegen würde?

Was hieß Armut für mich, die Vierjährige? Ganz klar: Im Theater, das offenbar nur von außen wie ein Schloß aussah und drinnen bitteren Mangel litt, brauchten sie eine Menge Sachen, mit denen sie Kunst machen wollten, die sie aber nicht besaßen. Zum Beispiel Betten für Peterchens Mondfahrt. Unsere Betten. Der unruhestiftende Künstler, mein junger Vater, der da in den schwiegerelterlichen Haushalt geraten war, sah nicht ein, daß die Familie ihre Betten behalten und sie nicht kurzfristig der Bühne zur Verfügung stellen wollte.

Man machte, wenn ich mich recht erinnere, ein Experiment mit Federbetten aus Glaswolle, was dazu führte, daß sich sämtliche Schauspieler tagelang wie besessen kratzten. Unsere Betten fanden also doch den Weg aus der Malergasse an den Bismarckplatz, denn Peterchens Mondfahrt war eine heilige Geschichte, und Weihnachten ohne den Maikäfer Sumsemann und Taumariechen, Blitzhexe und Nachtfee nicht denkbar. Eine private Erhebung meinerseits hat übrigens ergeben, daß ein beträchtlicher Teil der Theaterelite von heute durch Peterchens Mondfahrt theatralisch sozialisiert worden ist – wovon man aber leider nur selten was merkt.

Was die Kinder im Theater nicht sahen, bekam ich zuhause zu hören, wenn sich die Großen über ihr Theater unterhielten – es gelang ihnen nicht, mich zu desillusionieren, obwohl das mit der Tänzerinnengeschichte gut gegangen wäre. Die Balletteusen des Nachkriegstheaters waren nämlich die einzigen richtig wohlgenährten Menschen weit und breit, was ein ehernes Theatergesetz außer Kraft geraten ließ. Die Damen, die eigentlich für das Ätherische und Schwerelose zuständig zu sein hatten, ließen sich von ihren amerikanischen Verehrern mit candies und Erdnußbutter mästen und wurden so üppig, daß die ausgemergelten Bühnenarbeiter ächzten und stöhnten, wenn sie die Tänzerinnen auf ihren goldenen Schaukeln in den Bühnenhimmel hieven mußten. Auf der Sternenwiese wurde das meistgefürchtete Bild in Peterchens Mondfahrt .

Dennoch mißfielen die runden Damen den Bühnenarbeitern keineswegs, von einem ist der laute Seufzer überliefert : „So scheene Weiberleit gaabs – oba an Dreeg host dahoam...“

Sie sehen, ein großer Teil meiner Theatergeschichten sind Ergebnisse kindlicher Lauschangriffe – wenn sie daheim über das Theater redeten, und sie redeten kaum über etwas anderes, denn der Eisengroßhandel meines Großvaters gab konversationsmäßig offenbar nicht so viel her – dann machte ich mich so gut es ging unsichtbar und hörte zu, mit offenem Mund und furchterregendem Gedächtnis. Die wichtigsten Dinge – wer mit wem, und wer mit wem warum, und wer mit wem nicht mehr – interessierten mich nicht so, was falsch war, denn meine erste Liebe traf mich wenig später und mit verheerender Wucht. So weit war es aber noch nicht, und der nie versiegende Strom von Gegenständen aus dem bürgerlichen Haushalt meiner Großeltern ins Theater war mir viel wichtiger.

Was für eine Götterdämmerung, als mein Großvater eines bösen Abends seine heilige Hausjacke nicht an ihrem Haken vorfand! Ich sehe das Kleidungsstück noch genau vor mir: Eine rehbraune, weiche Jacke im Schnitt einer Litewka, mit dunkelbraunen Seidenverschnürungen und Hornknöpfen. Niemand wagte dem Herrn der Malergasse zu sagen, daß seine Leib­und Magenjoppe zu eben dieser Zeit in einem Ludwig­Thoma­Stück mitspielte, ich glaube, es war in Moral.

Ich fand das alles sehr aufregend und bemerkte jeden Fehlbestand eher als die Erwachsenen. Mein räuberischer Vater verstand sich mit den Hausmädchen ausgezeichnet, sie waren seine Komplizinnen und deckten ihn. Hier wars ein Schränkchen (Anzengruber), da eine Terrine (Ibsen), eine zinnerne Platte (Shakespeare) oder ein Spitzensonnen­schirm (Lehar).

Meine Interpretation nach mehr als einem halben Jahrhundert: ich denke, dieser dem Krieg knapp entronnene junge Künstler, dem die guten Bürger nach der grade überstandenen Katastrophe ziemlich suspekt geworden waren, wollte für neue Träume sorgen, diesmal für menschenfreundliche und gescheite. Das Theater, muß er gedacht haben, verdient jede Hilfe, grade von den Bürgern. Vor allem die sollten der „moralischen Anstalt“ zu Willen sein und der Bühne ihren Tribut zollen, die auf das Böse hereingefallen waren. So kann er gedacht haben, ich weiß es natürlich nicht, aber ich stelle es mir vor. Die bürgerliche Selbstgewißheit in ihrer spezifisch Regensburger Spielart war noch nicht wieder hart geworden, da gab es noch ein paar Schürfwunden, ein paar Nachdenklichkeiten – und genau die waren fürs Theater ein Segen. Es konnte ausprobieren, Wagnisse eingehen, gewiß sogar ein bißchen provozieren. Die Zeiten, wo dem Theater Provokation als einziger Seinsgrund zugestanden wurde, lagen noch in weiter Ferne.

Mein erstes Bühnenerlebnis war nicht Peterchens Mondfahrt, sondern Die Zauberflöte. Und ich erinnere mich noch ganz genau daran, obwohl ich der Handlung nicht eine Sekunde zu folgen vermochte. Nun ist es sowieso nicht leicht zu erzählen, um was es in dieser wunderbaren Oper eigentlich geht – auch Erwachsene scheitern beim Versuch, irgendeine Logik in die Geschichte zu bringen.

Der Irrsinn meiner Eltern, mich einfach ins Theater mitzunehmen, egal, was es gab, schenkte mir eine der kostbarsten Erfahrungen meines Lebens – den vollkommen reinen, durch Verstehenwollen und Wertung ungetrübten Genuß. Die Musik nur als Musik, die Stimmen nur als Stimmen, Bilder, Farben, Bewegungen nur als sie selbst, nicht als Transportmittel für Inhalte. Ich weiß mittlerweile, daß nicht vielen Menschen dieses Erlebnis beschieden ist – dagegen stehen die gesellschaftlichen Gewohnheiten, und glauben Sie bitte ja nicht, daß mich heutigentags die Anwesenheit eines Kleinkindes in der Oper rührt und beglückt! Nein, da reagiere ich wie jeder beliebige egoistische und hochmütige Bildungsbürger, es wird kreischen, denke ich, und mich stören.

Seltsam, daß ich erst beim Nachdenken über die längst vergangenen Wunderstunden in eben dieser Loge, in der ich jetzt sitze, das Geschenk von damals begriffen habe. Und ganz sicher bin, daß jedes Kind, das es sich wünscht ( das tun wahrscheinlich nicht gar so viele ) diese Chance bekommen sollte.

Ich könnte das Sternendiadem der Königin der Nacht noch zeichnen und ihren fließenden samtblauen Mantel – damals geriet ich in eine kleine Verwirrung, weil in einer Stadt wie Regensburg die Blaubemäntelten und Sternengekrönten zuhauf als Statuen in den Kirchen stehen und was ganz anderes bedeuten. Jedenfalls war ich lang nicht davon abzubringen, die Königin der Nacht sei eine Art singender Muttergottes, die sich versehentlich ein bißchen grantig aufführt. Meiner sehr frühen Liebe zur Oper tat das keinen Abbruch, wenn ich mich richtig erinnere, hat niemand versucht, mich zu korrigieren. Ich hatte die Schönheit bereitwillig geschluckt und wollte mehr, also hatten sie nichts falsch gemacht, glaubten meine Eltern. Ich bin ziemlich sicher, daß man ihre Gewohnheit, mich, das Kleinkind, ins Theater mitzunehmen, in dieser meiner geliebten Heimatstadt völlig unmöglich fand. Die rasch wiederbelebten Kaffeekränzchen und Honoratiorenstammtische, jene Turmwächter der Wohlanständigkeit, werden sich die Mäuler zerrissen haben. Vielleicht war das – im Nachhinein gesehen – das Interessanteste am stummen Kampf meiner Kindheitsorte gegeneinander, denn in ihm spiegelte sich unser sich langsam wieder aufrappelndes Land. Abenteuerlust gegen störrisches Beharren und Schönreden, wütende Ablehnung aller Konventionen gegen den immer beharrlicheren Versuch, sie alle wieder zu installieren.

Wie sah die Stadt damals aus? Grau, bröselig, erschöpft. Man sah keine hübschen Menschen auf der Straße, sondern viele vom Krieg Gezeichnete, Heimkehrer, die Arme und Beine und manchmal auch den Blick verloren hatten und wie Tote dreinschauten. An allen Ecken kauerten Bettler. In vielen Wohnungen mußte der Platz mit Flüchtlingen, also mit Fremden, geteilt werden. Man verstand einander nicht. Man verstand wahrscheinlich sich selber nicht. Den Todesmarsch über die Steinerne Brücke, die Einpferchung der Häftlinge im Colosseum, die Zwangsarbeit am Bahnhof – niemand wollte es gesehen haben.

Das Theater „ ließ die Armut vergessen“ – man soll das nicht gering schätzen. Ich glaube, seit ich denken kann, daß Musik und schöne Bilder Seelen instand setzen können, sich irgendwann der Wahrheit zu stellen. Aber es ist ein alter Theaterstreit und ich werde mich hüten, ihn auflösen zu wollen – nur daran erinnern, daß er damals, nach dem Absturz in die Barbarei und dem knappen Davonkommen, schon begonnen hat:

Darf die Kunst Wunden verpflastern oder muß sie sie offenhalten, Salz in sie reiben? Das werden sie sich damals noch leise gefragt und immer wieder anders beantwortet haben, mit jeder Inszenierung neu.

Der Spielplan scheint ein bißchen harmlos: Land des Lächelns, Shaws Helden, Die Fledermaus. Aber auch Anouilhs Antigone, eine Parabel über Schuld und Sühne.

Was konnte man den Bürgern zumuten?

Kann die Kunst die Welt verändern? Nun hatte sich ja die Welt verändert, rabiat und blutig, und eine Menge wichtiger Traditionen waren abgehackt und obsolet geworden. Konnte man sie wiederbeleben, oder tanzten und sangen da bloß die Gespenster einer toten Epoche auf der Bühne?

Ich war indessen fünf, und es war mir ganz egal, ob das Theater die Erwachsenen erziehen konnte – mich erzog es. Ich durfte sogar dort arbeiten.

Mein Vater, der sich mir gewogen machen wollte, hatte mir eine kleine Staffelei und ein Malermäntelchen besorgt und nahm mich mit in sein Allerheiligstes, den Malersaal. Wie Sie alle wissen, gibt es den alten Malersaal nicht mehr, und so müssen Sie einfach meinen Erinnerungen trauen: Ein riesiger lichter Raum mit den Farbspuren von hundert künstlichen Welten auf dem Bretterboden, eine hohe Regalwand mit Holzschüben, in denen die Farbpulver aufbewahrt wurden. Und das Magischste, die blaue Katze. Ich habe oft von ihr erzählt, und sie gehört zu den Geistern, die in diesem Theater leben, von denen wird noch die Rede sein, denn seien Sie sicher: Alle sind noch da. Sie lauern in den Vorhangfalten und flattern auf dem Schnürboden herum, sie hocken in Logen und Garderoben – die einst gesprochenen Worte und gesungenen Töne sind ein zweites, unstoffliches, aber höchst lebendiges Theater. Keine Renovierung kann sie vertreiben, die Theatergeister, und so schleicht die blaue Katze auch im neuen Malersaal herum, da bin ich ganz sicher.

Natürlich war sie nicht blau geboren, sondern in den Farbpulverbehälter mit dem Ultramarin gefallen. Einer von den Bühnenmalern hatte sie gewaschen anstatt sie nur auszustauben, und so blieb sie blau. Ich liebte sie. Ich war das einzige Kind in Regensburg, das eine blaue Katze kannte.

In diesem Malersaal habe ich gelernt, daß es so etwas wie Entzauberung beim Theater nicht gibt. Im Gegenteil – je mehr man sieht von den Werkstätten, Malern, Schneidern, Perückenmachern – je mehr man sich herumtreibt in den Gängen und Maschinerien, auf den Brücken und in der Technik – desto bezaubernder und geheimnisvoller wird die Sache. Ich kann nicht zählen, wie oft ich im Bauch dieses Hauses verloren gegangen bin und gesucht werden mußte. Meine Neugier erlahmte nie und immer schien mich ein neues Abenteuer grade um die nächste Ecke zu locken .

Der Malersaal beherbergte Wälder, Schlösser und armselige Katen, natürlich waren sie nicht echt und in Einzelteilen. Ich muß aber leider sagen, daß mich später wirkliche Wälder, Schlösser und Katen oft ein bißchen enttäuscht haben. Die gemalten waren richtiger, zweckmäßiger, vielleicht mochte ich es, daß sie mich nicht überwältigten. In einem Malersaal kann man bei der Schöpfung zuschauen und erkennen, daß sie arg zerbrechlich ist. Und immer wieder durch eine andere ersetzt wird.

Der Intendant hieß Doktor Herbert Decker, ein heftiger Wagnerianer, was für die damalige Zeit nicht so einfach war – aber es müssen ihm bemerkenswerte Inszenierungen gelungen sein. An Wagner ließen sie mich nicht ran, ich wurde auch nie in eine seiner Opern mitgenommen, und ich bin sicher, der Grund war nicht ihre Länge, sondern daß meine Eltern diese Musik für unheimlich und unbekömmlich hielten. (Viele Jahre später inszenierte mein Vater den Ring an der Brüsseler Oper und erbat sich eine schalldichte Regiekabine. Noch mehr Jahre später war er tief enttäuscht, als ich meinen ersten Tristan in Bayreuth gesehen und gehört hatte und mich gar nicht mehr beruhigen konnte vor Glück.)

Zurück zum Intendanten Decker, den sie den Alten nannten. Aufbegehrend wie eine Schulklasse gegen ihren Lehrer waren sie, das fiel mir bald auf, nämlich als ich in die Schule kam. Decker ist mir als schwerer Mann in Erinnerung, das waren damals nicht viele. Er konnte im Auto Zeitung lesen ohne daß ihm schlecht wurde und interessierte sich nicht für Kinder. Das war mir aber egal, das Theater bot genügend ziemlich kindische Leute, die mit mir was anfangen konnten. Schauspieler fand ich über die Maßen wunderbar, denn sie waren leicht zu verstehen. Sie mußten viel gelobt werden und redeten gern über sich selber, wobei sie sich umschauten, ob ihnen auch genug Leute zuhörten.

Am wunderbarsten war Harry Niemann. Hat man die alten Rollenfächer noch in Erinnerung? Da gab es die schweren Heldenväter, den Bonvivant, die Jugendliche Naive, die Salondame – und eben die Jugendlichen Liebhaber, als deren edelster und schönster Vertreter mir Harry Niemann erschien. In ihn verliebte ich mich, und ich wußte nicht, wie mir geschah. Der Arzt mußte kommen, weil ich vor lauter Liebe kotzte und keiner wußte, was das für eine Krankheit war. Ich natürlich auch nicht. Viele Jahre später, bei der Lektüre von Thomas Manns Novelle Unordnung und frühes Leid ist mir klar geworden, wie einsam und hilflos ein kleines Kind ist, das sich verliebt hat.

Die Tatsache, daß er und seine Freundin und spätere Frau Anna oft bei uns waren, sozusagen am bürgerlichen Anfang dieser Kindheitsstrecke, in der Malergasse, wo alle mächtig viel Wein tranken und laut redeten, minderte meine Faszination überhaupt nicht. Es war wie im Malersaal – ich wußte, daß Harry genau so schnell ein Königssohn werden konnte wie die Pappwände ein Schloß. Darauf verließ ich mich. Etwas von diesem Vertrauen ist mir geblieben, trotz mancher Enttäuschung. Harry und Anna waren die besten Freunde meiner Eltern, sie gehörten zu den Jungen, die knapp der Tätergeneration entgangen waren und das feierten. Und alles besser machen wollten.

Es war an Weihnachten 1950, daß keine rechte Stimmung aufkommen wollte. Die Erwachsenen weinten und flüsterten. Ich erinnere mich, daß ich beleidigt war, weil man mich nicht ins Vertrauen zog. Die Weihnachtsgeschichte wurde lustlos gelesen, die Geige meines Vaters klang rauh, die Weihnachtslieder wollten niemandem über die Lippen.

Unser Freund Harry Niemann, meine große Liebe, war Vater und gleichzeitig Witwer geworden. Die schöne, junge, kluge Anna Niemann, geborene Michael, die so wunderbar lachen konnte (zum Beispiel, als ich ihr den Harry abkaufen wollte und ihr im Tausch meine rote Lacktasche anbot) – war geopfert worden. Das war damals so: Das Kind, ein Sohn, war wichtiger als die Mutter. Zur höheren Ehre Gottes schickte man die Mutter in den Tod und rettete das Kind. Nach und nach haben sie mir die Tragödie erzählt. Ich verstand sie nicht. Tod kannte ich nur aus dem Theater. Da sangen oder redeten sie schön und fielen um, und dann standen sie auf und verbeugten sich. Ich wollte nicht einsehen, daß das nicht immer funktioniert. Aber Anna kam tatsächlich nie wieder.

Sie spielten und spielten, Premiere folgte auf Premiere und die Regensburger schienen ihr Theater zu lieben, jedenfalls besuchten sie es fleißig. Die Zeit, da man Karten mit Briketts und Eiern bezahlte, waren längst vorbei. Harry Niemann, der Märchenprinz, verließ Regensburg. Eine Karte kam von ihm, aus Bremerhaven, ein Szenenfoto mit ihm und Anna, darauf ganz klein geschrieben die Worte: Ach, meine arme Anna, so allein! Und daß man mich grüßen solle. Sie haben sie mir gezeigt. Für lange Zeit dachte ich, das sei der Tod, darin bestehe er: Im Alleinsein. Die Karte habe ich noch.

Damals muß mir sachte und unmerklich das Theater die Wirklichkeit ersetzt haben. Ein Beispiel: Der Nikolaus kam, es muß im Jahre 49 gewesen sein. Ich war also durchaus noch im gläubigen Alter. Der Nikolaus war der Schauspieler Jupp Fries, ein besonders freundlicher Mann, weniger überhitzt und unter Strom als die anderen Schauspieler. Er hatte den halben Nachmittag Maske gemacht, nicht einfach einen Bart umgehängt wie die Kaufhausweihnachtsmänner es taten, sondern richtig Haar für Haar geklebt. Seine Stimme hatte er nikolausig gemacht und nicht einmal die Schuhe vergessen, an denen seit alters her Kinder den Nikolaus enttarnen. Es waren Fellstiefel, wahrscheinlich aus einer Anzengruber­Inszenierung. Ich hörte seinen Worten höflich zu, seine Frage, ob ich brav gewesen sei, ignorierte ich. Er wußte es doch, was fragte er so blöd? Er war doch der Onkel Jupp!

Da begann der Zwiespalt, vor dem kein dem Theater verfallenes Wesen verschont bleibt: Gleichzeitig verführt werden und durchschauen wollen. Der Illusion erliegen und dennoch wissen, wie sie entsteht. Ich denke, das ist wirkliche Theaterbegeisterung, und nicht heilbar, natürlich, denn diesen Konflikt zwischen Hirn und Herz muß man immer wieder neu auskämpfen, bei jeder Inszenierung, an jedem Platz der Welt, wo eine Bühne ist. Vielleicht ist mir das zu früh so gegangen, ich weiß es nicht, ich habe ja nicht drüber nachgedacht. Ich glaubte an den Nikolaus und wußte gleichzeitig, daß er eine Darstellung war und der Darsteller Onkel Jupp. Alles konnte dargestellt werden, das sah man ja allabendlich auf der Bühne, höchste Freude, Leidenschaft – die mir eher verdächtig war – Mord und Totschlag, göttliche und teuflische Töne. Und alles löste sich beruhigenderweise immer wieder auf in ein paar Stoffetzen, den Geruch von Leichners Abschminke (das ist der Theatergeruch überhaupt) und einen Haufen angemalter Leinwand und Bretter.

Weil mir die große Bühne zur Verfügung stand, hatte ich kein Puppen­oder Kasperletheater. Ich hätte es wahrscheinlich nicht ernst genommen, das ist schade und eine Lücke.

Ich lese die Sätze einer berühmten Frau:

Ich habe schon als Kind häufig Puppentheater nach Märchen ohne jede Vorbereitung gespielt. Ich habe dafür gegen einen Pfennig Eintritt die Kinder aus der Kupferstraße eingeladen und hatte immer so viel Kinder bei meiner Vorstellung, daß ich sie kaum auf den Stühlen unterbringen konnte.

Nicht losgelassen hat diese Frau das Theater, bis zu ihrem Lebensende. Marieluise Fleißer erzählte dem Theaterkritiker Günther Rühle von dem Vorhang, der zwei Zimmer teilte und lebensbestimmend wurde.

Es gibt da eine Parallelität, die mir zu denken gegeben hat: Genau dreißig Jahre vor meiner Geburt kam die Fleißer nach Regensburg, zu den Englischen Fräulein. Bei denen habe auch ich meine ersten Schuljahre verbracht, als einzige Evangelische, was nicht einfach war und mich wahrscheinlich lebenslang literarisch beflügeln wird .Das erste echte Theater, das die Fleißer kennen­und liebenlernte, war dieses hier, das Regensburger. Sie war dreizehn Jahre alt, als sie ins Klosterinternat kam.

Sie war eine Pionierin, die Autorin der Pioniere in Ingolstadt. Bildung mußten sich Mädchen und Frauen damals noch hart erkämpfen. Und um das Theater wirklich zu lieben, braucht man sie, die so genannte Bildung. Die Fleißer war einsam, eingesperrt, und auch abhängig von den Stimmungen eingesperrter Frauen, wie sie schreibt. Ein Mädchen erzählt ihr in der Spaziergangsschlange (was für ein schöner, bildkräftiger Ausdruck) die Marquise von O. von Kleist. Das Mädchen wird von der Schule geworfen. Dann kommt, was kommen muß, die Rettung in die Phantasie. Und die Belohnung: Das Theater. Seltsam: Bei ihr wie bei mir wars eine Nachkriegszeit, eine sogenannte Schlechte Zeit . In denen, das weiß man, hat die Kunst gute Karten und findet mehr Anbeter als in den satten Zeiten.

Ein Venusberg hatte sich rot aufgetan, beim erstenmal verschlug es mir den Atem, eine besondere Affinität entstand. Fortuna mit ihrem Füllhorn schwebte auf dem Vorhang nieder, ich glaubte die Verheißung sofort. Ich setzte mich vor Hoffnung betäubt. Alles in diesem Theater war einem so nah. Die Ränge schwangen sich beinahe über den Kopf weg, Hufeisen – und alle brachten sie Glück.

Nur in den Ferien fand ich ins stark entbehrte Theater hinein. Gefangenschaft trug ich als aufzufüllenden Mangel, da war ich ein nur zu williges Publikum. Ich zuckte nicht mit der Wimper, mein jungfräulicher Magen schluckte alles. Ich pumpte mich voll mit einem Kunstgenuß, auch wo er fragwürdig war, vergleichen konnte ich es nicht.

Es ist nicht lang her, daß ich diese Zeilen gefunden habe und sie sind mir Wort für Wort aus der Seele geschrieben, auch die etwas wilden Farben und hohen Töne kommen mir vertraut vor. Vor allem: Vergleichen konnte ich es nicht, sagt sie.

Wir alle konnten es nicht vergleichen, das Theater, womit auch? Es war einzigartig, gut, manchmal hörte man ein paar Sätze über München oder Nürnberg, aber das war weit weg. Gewiß wußte man, daß auch in England, Frankreich und Amerika Theater gemacht wurde ­schließlich konnte man jetzt mehr und mehr Stücke von dort importieren, was man auch tat– aber was hier, auf dieser Bühne geschah, war einzigartig. Andere Städte hatten, das muß man sich vergegenwärtigen, viel mehr gegen ihre Zerstörung zu kämpfen, man dachte sich dort Provisorien aus, spielte in halbzerstörten Kinos, Kellern und Kneipen. Die Unsterblichkeit des Theaters ist damals überall ziemlich eindrucksvoll bewiesen worden.

Regensburg hatte Glück: Das schöne höfische Haus stand noch, wurde allerdings von den Amerikanern mitbenutzt, deren Anwesenheit vordergründig mürrisch ertragen und insgeheim dankbar akzeptiert wurde. Daß es anderswo schlimmer gekommen war mit den Besatzern sprach sich herum. Es gab die Neue Bühne, ein Studententheater und immer regelmäßiger dieses Dreispartenhaus.

Regisseure hatten damals noch nicht annähernd die Gottähnlichkeit, die ihnen seit den Siebzigern zugewachsen ist. Es gab einen Oberspielleiter, der für seine zwei einzigen Regieanweisungen unsterblich zu werden verdient: Niemand weiß wahrscheinlich mehr von ihm, und so will ich, wenn schon nicht seinen Namen, so doch sie allen ehrgeizigen Regisseuren zu bedenken geben: Eine galt für Tragödien (egal ob Shakespeare oder Ibsen), sie lautete: Etzad miassat amal wieda a Schroa kumma ! Ich muß das hier hoffentlich nicht übersetzen, so wenig wie die zweite, die für Komödien und Operetten galt:

Leiteln, stoßt ´s Glaseln zsamm!

Und mit diesen weisen und minimalistischen Anweisungen ist viel Schönes auf die Bühne gebracht worden. Sie waren für die gesamte Bühnenliteratur brauchbar.

Der Fleißer hätten sie mit Sicherheit gefallen. Sie gab sich dem Theater ganz, eroberte die Bühne, wenn auch nicht mühelos. Das Theater war ihre Bestimmung und sie wollte es bestimmen. Das ist mir bis auf den heutigen Tag fremd geblieben. Ich wollte und will nie etwas anderes sein als Zuschauer, und alle Jugendträume, Schauspielerin, Musikerin oder Regisseurin zu werden, oder als Autorin auf die Bretter zu gehen, sind mir erspart geblieben. Das kam überhaupt nie in Frage.

Wie waren die Schauspieler damals, daß ich ihnen nicht nacheifern wollte? Mir schien, sie hatten es alle ein bißchen schwer, weil sie sich so heftig behaupten mußten. Auch im Alltag, man konnte nicht einfach graumäusig Herr Fries oder Fräulein Geggerle sein und abends dann aufblühen, man mußte seine Strahlkraft auch über den Tag retten. In einer überschaubaren und nach dem Krieg an Glanz nicht eben reichen Stadt ging das auch ganz gut.

Wir sprachen schon von den Geistern, die sich nicht vertreiben lassen und in einem so alten Bühnenhaus wie diesem in Mengen ihr Gespensterdasein führen.

Die schönste Schauspielerin der damaligen Zeit allerdings, Salondame, wie sie im Buche stand, spukt nicht nur hinter der Bühne und in den Garderoben herum, sondern auch auf dem Markt am Neupfarrplatz. Ach, er gleicht sich nicht mehr, der Neupfarrplatz nicht und der Markt auch nicht, aber sie schreitet noch dort herum, Anneliese v. Eschstruth, die in ihrer Kennkarte – was damals der Paß war – einen dicken Fettfleck auf dem Geburtsjahr hatte. Ich erinnere mich an ihr hochmütiges, mit einem schweren, blonden Knoten betontes Profil, sie trug knappe Schneiderkostüme ohne die obligatorische Schluppenbluse, sie hatte unglaubliche Beine, sagten alle und solche Schuhe mit Knöchelriemen und Riesenabsätzen. Für mich als Kind waren die – keine Ahnung, warum – Inbegriff der Verworfenheit. Das heißt, was Verworfenheit ist, wußte ich nicht so genau, aber ich wollte das gern sein: Verworfen. Die wahnsinnig schöne und elegante Frau, die nur die Eschstruth genannt wurde, ging jeden späten Vormittag auf den Markt, um sich bewundern zu lassen. Und sie kaufte, behauptete meine nicht ganz unvoreingenommene Mama, nur deswegen Suppengrün und Endiviensalat, weil sie beides so ungemein schmückte. Sie drapierte das Gemüse in eine italienische Korbtasche, und das war viel – heute würde man sagen, geiler – als wenn sie mit irgendwelchen Rosensträußen rumgelaufen wäre. Das sah sogar ich ein, denn ich begegnete ihr manchmal, und sie grüßte mich huldvoll, während die sie stets begleitenden Herren über Lauchstangen und Gelbe Rüben ins Schwärmen gerieten.

Einer ihrer ergebensten Verehrer war ein Mann, ohne den das Regensburger Theater der damaligen Zeit nicht denkbar gewesen wäre : Der Arzt Dr. Walther Reinemer. Am 15. Juni 1948 gab es die erste Uraufführung nach dem Krieg, das Stück hieß Der Dombaumeister und stammte aus der Feder des sogenannten Theaterarztes. Reinemer war eine bemerkenswerte Figur, ein Regensburger ganz und gar, ein fröhlicher Schlaraffe und geheimnisvoller Geschichtenerzähler, lebenslanger Junggeselle und phantasievoller, ergebener und großzügiger Frauenverehrer. Seine Geschenke waren legendär, denn er war der Leibarzt des Fürsten von Thurn und Taxis und ließ sich von seinem durchlauchtigsten Patienten in Naturalien bezahlen – mit Schmuck und Antiquitäten. Der Schmuck wanderte zum großen Teil an Damenhände und ­hälse, die fast alle mittel­oder unmittelbar mit dem Theater zu tun hatten. Meine schöne Mutter wurde auch sehr von ihm verehrt, ich habe noch die Briefe, in denen er ihr Pelze und Juwelen ankündigt. Sein Stück, das in der Kritik respektvoll und freundlich behandelt wurde, hatte mein Vater ausgestattet.

Das Publikum nahm die Aufführung mit außerordentlich starkem und herzlichem Beifall auf. Es gab sehr viele Blumen und sehr viele Vorhänge, Autor, Hauptdarsteller, Regisseur und Bühnenbildner mußten sich immer wieder zeigen. hieß es am 16 Juni 1948 in der Zeitung.

Ich wage zu behaupten, daß ihm kein medizinischer Erfolg, kein gerettetes Leben so wichtig war wie dieses sein indessen längst vergessenes Stück. Er hatte im Krieg Furchtbares erlebt, worüber er nicht sprach. Er lebte im Bann seiner sehr schwierigen und herrschsüchtigen Mutter. Er fand sich mit seiner Biographie nicht ab und erfand sich jeden Tag eine neue. Er war eine Mischung aus Bodenständigkeit und Sehnsucht, schrieb die schönsten Briefe, die ich je gelesen habe, besaß Witz und Wehmut ­und seine Rettung und seine Welt waren das Theater. Er war ein Bildungsbürger, einer, der nicht zur Boheme gehören wollte, sie aber lebensnotwendig fand.

Wir wollen vielleicht noch ein bißchen bei dem vermeintlichen Gegensatzpaar Bürger und Theater bleiben, indem wir uns den Arzt Walther Reinemer vor Augen führen: Von seiner Praxis direkt hinter dem Jakobstor aus konnte er das Theater buchstäblich atmen hören. Er war hochgewachsen, jedenfalls erschien er mir so. Er trug schöne Anzüge mit breiten Revers und Westen und einen weichen, braunen, später sachte ergrauenden Vollbart. Fürstliche Ringe schmückten seine Hände, die Fingerspitzen waren dunkel vom Nikotin. Er rauchte, wie andere Menschen atmen. Seine Sprache war farbig und ein bißchen maniriert, in seinem Krawattenknoten steckte eine große Perle, er sah aus wie aus einem Oscar­Wilde­Stück. Das wußte ich damals noch nicht, sondern ich dachte, alle Ärzte seien wie er. Er befreite mich von meinem Blinddarm, machte mir eine viel zu große Narbe und versprach mir, daß ich trotzdem reich heiraten würde.

Mein Vater malte ein Porträt von ihm, darauf sieht er wie ein echter Künstler aus. Vielleicht war er das auch.

Ich denke, das Theater kann ohne die später so verhaßten, geschmähten und fast verscheuchten Bürger nicht leben. Wenn es nur sich selber dient und in seiner Abgeschlossenheit unsichtbare Feinde bekämpft, landet es in einem ästhetisch und inhaltlich luftleeren Raum. Theater muß Antworten geben, und das möglichst nicht nur auf Fragen, die es selber erfindet. In vielen ziemlich bekannten Theatern wird zu meiner Verblüffung immer noch versucht, den Bürger zu schockieren. Das kann aber die Wirklichkeit viel besser. Deswegen denke ich, das Nachkriegskonzept dieses Theaters hier war klug, ohne dessen wahrscheinlich inne zu sein – man versuchte, aufzurichten, durch Musik, große Bilder, große Gefühle. Man versuchte, die Menschen durch Schönheit auf die richtige Seite zu kriegen. Ganz behutsam dann, die Themen härter, die Stücke kälter und kritischer werden zu lassen. Und zum Trost immer wieder mal eine Operette. Ich finde das ziemlich schlau!

Die Fenster zur Welt öffneten sich allmählich, manchmal leise, manchmal unter lautem Knarzen. Das nannte man dann Skandal, ein Wort, das ich lernte, als ganz Regensburg von nichts anderem sprach: Die Großen stritten sich über einen Film, die Sünderin mit Hildegard Knef, in dem dieselbe, wie wir heute wissen, wenige Sekunden und ziemlich weichgezeichnet nackt zu sehen ist. Der damalige Oberbürgermeister hieß Zitzler und ließ das unanständige Machwerk verbieten, und die im Theater dachten wahrscheinlich, was der Film kann, können wir auch. Die im Kino hatten die Sünderin und auf der Bühne sah man Die ehrbare Dirne von Jean Paul Sartre. Da haben sie mich nicht mit hineingenommen, das war auch gar nicht nötig, denn in unserer Wohnung in der Malergasse wurde Text gelernt, memoriert, gestritten und interpretiert. Auch kamen mit dem Stück zwei sehr interessante neue Theatermenschen in die Stadt, ein schlanker, krullehaariger und etwas schwäbisch sprechender Herr, er hieß Fritz Umgelter, und eine schöne Dame mit einem Riesenbusen, sie hieß Marlies Schoenau und war die Dirne. Sartre hatte sein Stück 1946 nach einem Amerikabesuch geschrieben, der ihm wohl das Bild des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten, wo die Sieger herkamen, ein bißchen verdunkelt hatte. Das Stück spielt im amerikanischen Süden und die Prostituierte Lizzie soll lügen, um einen weißen Mörder zu decken. Das Opfer ist natürlich ein Schwarzer, und Lizzie, die zuerst die Wahrheit sagen will, unterwirft sich den weißen Konventionen. „Es gibt keine Wahrheit, es gibt Weiße und Schwarze, das ist alles.“

Marlies war die Lizzie, Umgelter (der, wie Sie alle wissen, später eine große Karriere als Fernsehregisseur machte) führte Regie. Interessant ist, daß Sartre im Jahr vorher über die Rassenfrage in Bezug auf die Juden geschrieben hat. Die reflexions sur la question juive erschienen 1945, unmittelbar nach der Öffnung der Lager. Ob man das wußte? Ob diese muntere, dem Skandal furchtlos ins Auge blickende Truppe sich klar darüber gewesen ist, daß sich das Anprangern des amerikanischen Rassismus so wenige Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und des Holocaust ein bißchen merkwürdig ausnehmen würde?

Ich weiß es nicht. Ich habe keinerlei Erinnerung an Gespräche über dieses Thema. Das heißt nicht, daß es sie nicht gab – aber ich weiß es eben nicht. Die Grundstimmung war wohl eher das berühmte Wir sind noch einmal davongekommen und Wir haben es nicht gewußt. Und natürlich schon bald Es geht aufwärts.

Diese Jahre schienen länger zu dauern und mehr zu enthalten, als die ihnen folgenden. Die Währungsreform war im Juni 1948 , und wie anders war das Land nur zwei, drei Jahre später! Die Eisenhandlung florierte. Noch immer verschluckte das Theater den einen oder anderen Gegenstand, aber der Fundus wuchs und speiste sich aus den Dingen, die man ihm einfach gelassen hatte. Hausrat oder Kleider ausrangieren hieß, die Sachen würden irgendwann Teil eines Ibsen, Shakespeare oder Strauß sein. Ein hübscher Gedanke.

Peterchen und Anneliese hatten endlich eigenes Bettzeug und Ludwig Thomas Figuren mußten ohne die Hausjoppe meines Großvaters auskommen. Der hatte sich indessen ein bißchen in die Ehrbare Dirne Marlies Schoenau vergafft und bekam dadurch einen ganz neuen Blick aufs Theater. Bedenkenträgern aus seiner Welt, den Handelskammerpräsidenten, Zahnärzten und Advokaten, hielt er eine ungestüme Modernität entgegen, als hätte er das Neue Theater höchstpersönlich erfunden.

Meine Großmutter betrachtete das Treiben mit mildem Mißtrauen. Sie war damals grade fünfzig, ein Alter, in dem man heutzutage jeden Unfug anstellen darf, aber damals eher nicht. Sie verstand nicht, daß ihr Schwiegersohn etwas, das ihm sichtlich so viel Vergnügen bereitete, als Beruf zu bezeichnen wagte. Wenn Arbeit Spaß machte, war sie keine, basta. Ins Theater ging sie gern, schlief aber in Opern unweigerlich ein, je lauter sie waren, desto tiefer.

Mit dem Theater – oder mit seiner Hilfe – installierte sich damals in Regensburg eine neue Art von Fasching. Fasching wurde wie verrückt gefeiert, steppenwolfartig, das kam vor allem den konservativen und ehrpusseligen Bürgerinnen und Bürgern sehr entgegen. Verkleiden wurde zur Manie und zur Wissenschaft. Vor den Tollen Tagen war mein Vater samt seinen Schneidern und Maskenbildnern der begehrteste Mann der Stadt. In seinem Atelier gaben sich die Honoratiorengattinnen die Tür in die Hand, manchmal mußte meine Mutter dabeisitzen, damit die Damen nicht vor lauter Maskierung wild wurden. Eine ziemlich üppige Arztgattin hatte sich als Garten Eden verkleiden wollen, mit Äpfeln an den dafür geeigneten Stellen und einer sich darum herumwindende Schlange. Bezahlt wurde damals nicht, jedenfalls kein Geld. Da gabs eher eine kostenlose Behandlung beim Gatten des dicken Gartens Eden oder vielleicht ein mehrgängiges Essen mit Wein.

In der Sammlung Blank habe ich ein Faschingsprogramm gefunden: ALLOTRIA 1949 mit Modenschau im Maxim. Das Treiben wird, wie damals die meisten Theaterfeste im Neuhaussaal stattgefunden haben: 2 Stunden Lebensfreude für Auge und Ohr, heißt es da, und dann folgt ein Programmalphabet von einer verblüffenden Harmlosigkeit. Frohe Menschen, seids willkommen und Xmal würden wir Ihnen danken wenn You (Sie Ihr Du...) heuer mit uns zufrieden wärt!

Fürs Bühnenbild zeichnete Frisch­vom­Faß­Küfner verantwortlich.

Ich glaube nicht, daß die Feten so unschuldsvoll und schülerbrav abgelaufen sind, wie es da klingt. Jedenfalls waren meine Eltern keine Nacht daheim, aus Frust wurde dann ein großelterlicher Hausfasching veranstaltet und ich haderte sehr mit meinem Alter. Plötzlich durfte ich nicht mehr mitmachen. Das war nämlich kein Theater, sondern echtes Leben, und da wollten sie mich nicht dabeihaben. Ich wurde unausstehlich und spielte mit dem Gedanken, mir eine andere Familie zu suchen. Der Tropfen, der das Faß meines Unglücks zum Überlaufen brachte war, daß sie mir eines Abend sagten, heute sei Federball und da dürfe ich hingehen. Ich erinnere mich an wunderbare weiße Visionen, die in mir auftauchten, Federn waren etwas herrliches , weich und schön, in den Operetten trugen sie sie auf ihren Hüten und um den Hals. Wie aufregend würde das sein, ein Federball! Als ich kapierte, daß sie sich über mich lustig machten und der Federball einfach ödes, blödes, langweiliges, widerwärtiges Ins­Bett­gehen hieß, begann ich sie zu hassen. Ich verabscheute die Erwachsenen, sie entschieden, wo man hindurfte und wo nicht, sie begriffen nichts von Liebe und Sehnsucht, die einen kleinen Menschen genau so schlimm ergreift wie einen großen – nein, schlimmer. Der Fasching markierte einen Bruch in meinem Kinderleben, vielleicht fängt so das Erwachsenwerden an.

Und so schaute ich verbittert und neidvoll zu, wenn sie sich stundenlang schmückten, anpinselten und in Fremde verwandelten. Was unterschied dieses Verkleiden von den vertrauten Kostümierungen im Theater? Ich kam nicht dahinter, aber ich wußte: Da war ein verbotenes Land. Der Aschermittwoch kam mir recht. Mit unserer Frieda ging ich hinunter zur Donau, zur Wurschtkuchl, da saßen zerzauste und vom wilden Leben gebissene Gestalten, aßen Kartoffelsuppe und wuschen ihre leeren Geldbeutel in der Donau. Das Theater aber ging weiter.

Ach, nur drei Jahre , 48, 49, 50. Ab 1951 machte mein Vater Abflugübungen, raus aus dem geliebten, ein­und abschnürenden Regensburg, in die Welt. 1952 wars dann so weit.

Aber vorher war noch viel Theater, immer neu, Giraudoux und Schiller, Zuckmayer und Goethe. Der Intendant beschwor das Regensburger Publikum zu kommen, so oft wie irgend möglich, die Preise habe man den schweren Lebensbedingungen angepaßt.

War das Kino eine Konkurrenz? Ich erinnere mich nicht. Als ich meinen ersten Film anschauen sollte, den Dieb von Bagdad , erhob ich ein Protestgeplärr. Auf meine Frage, was ein Film sei, hatten sie mir nämlich erklärt, das seien zusammengeklebte Bilder. Die wollte ich nicht sehen und ging widerwillig mit, und als ich raus kam, wußte ich: Das Zeug konnte mit dem Theater nicht mithalten. Mit der Meinung stand ich wahrscheinlich ziemlich allein.

Das Regensburger Theater ist wie ein Schloß, und ich bin sicher: In einem Theater wie diesem bewegen sich alle anders als in den kühlen Kunstfabriken, die nach dem Krieg in vielen Städten entstanden. Schmucklosigkeit war das Programm, man zog die Volkserziehungsanstalt dem Traum­und Entführungstheater vor. Ich war völlig erschüttert, als ich Jahre später die ersten modernen Theater sah: So streng! Nicht die geringste Möglichkeit, sich auf Samt, unter Kristall und Stuck ein bißchen fürstlich zu fühlen!

Übrigens hatte ich echte Fürstlichkeit oft genug erlebt, bei uns daheim und natürlich auch im Fasching. Prinz Johannes von Thurn und Taxis, ein Patient und Freund des legendären Theaterarztes Walther Reinemer, erwies der Malergasse gar nicht selten die Ehre. Er war fast so hübsch wie meine große Liebe Harry Niemann und sprach ganz merkwürdig, gedehnt und wahnsinnig vornehm. Ich versuchte das nachzumachen und wurde streng gefragt, ob ich was im Hals hätte. Der echte Prinz machte den Theaterprinzen keine Konkurrenz, denn die sahen viel prinzlicher aus als der junge Herr aus Schloß Emmeram. Der trug nicht einmal die kleinste Krone und nicht halb so viel Schmuck wie unser Doktor.

Aber alle wuselten um ihn herum und versuchten die Sonne seiner Gnade auf sich scheinen zu lassen. Nicht immer ging das wie gewünscht: Bei einem Faschingsball hatte man extra für ihn einen Tanz der Sieben Schleier aufgeführt. Er soll sich den regungslos betrachtet haben (wir erinnern uns an die Geschichte über die Tänzerinnen vom Beginn?) – und als der letzte Schleier gefallen war, sagten seine Durchlaucht: Dies war nicht der Tanz einer Salome, dies war der Tanz einer Salami. Vermutlich ist das Opfer dieser bösen prinzlichen Bemerkung vor Kummer vom Fleisch gefallen.

Ein ursprünglich höfisches Theater mußte, bewußt oder unbewußt, einen Weg gehen, der den neu gegründeten, neu gebauten Nachkriegstheatern erspart blieb. Ob das nun gut oder schlecht ist, werden wir sehen. Ein höfisches Theater jedenfalls existierte in erster Linie zur Freude und Unterhaltung des Souveräns, dem es seine Existenz verdankte. Es diente, wie die anderen Untertanen. Und vom Dienen und sich unterwerfen bis zum Herrschen sind tausende von Schritten zu gehen. Rückschritte und Irrwege, Sackgassen und Stolperer eingeschlossen. Das war gewiß in den Nachkriegszeit gut sichtbar: Immer wieder die Frage nach der Zumutbarkeit, die Angst vor dem Liebesentzug durch den neuen Souverän, das Publikum, aber auch immer wieder der Stachel im Künstlerfleisch: Weitergehen, an Schmerzgrenzen gehen, nicht nur entzücken, sondern auch erschrecken wollen. Natürlich sind das keine Kindergedanken, sondern die sind später gekommen, viel später ­als ich nämlich das Theater der damaligen Zeit und seinen Zauber, den die Zeit noch ein bißchen vergoldete, unwillkürlich mit dem verglich, was ich in den Jahrzehnten danach gesehen hatte. Ich war ja mitten in die heftige Zeit geraten und hatte tatkräftig am neuen Konzept des Theaters als moralischer Anstalt mitgebastelt. Damals nun schon lang in Frankfurt und wider alle meine Pläne für kurze Zeit in der Dramaturgie der Städtischen Bühnen gelandet, überschlugen sich die Forderungen an die Bühne. Man öffnete sie allen Randgruppen, die das unter der Führung des danach recht bekannt gewordenen Andreas Baader gern und heftig wahrnahmen, man probte Mitbestimmung, die Experimenta ließ die ganze Welt auf die Bretter – es war unglaublich spannend und man dachte keine Minute, dieses ganze Allotria sei vielleicht falsch oder gefährlich, im Gegenteil. Sämtliche Fenster wurden aufgestoßen, um die Luft der Revolution durch die bürgerlichen Musentempel pfeifen zu lassen, und wenn das mit dem Fensteröffnen nicht schnell genug ging, zerbrachen auch schon mal ein paar Scheiben. Großartige Inszenierungen kamen zustande, an den Tasso des jungen Peter Stein mit dem jungen Bruno Ganz in der Titelrolle denke ich noch immer voll Glück. Mein Vater war längst ein Abtrünniger, hatte sich mit all seinen Talenten dem Fernsehen in die Arme geworfen, das damals, Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger noch ein spannendes und intelligentes Medium war, man kann sichs kaum mehr vorstellen.

Und nun saßen wir, er und ich, wieder in einem Theater, das nichts höfisches hatte, sondern rauh und schrecklich fordernd war und waren begeistert.

Er so sehr, daß er zur Bühne zurückfand, wenigstens manchmal. Und ich, indem ich mich besann, auch zum Fernsehen ging und wieder Zuschauerin im Theater war, wie ichs immer gewollt hatte. Dachten wir, diese verrückten und wirbeligen zwanzig Jahre später noch an unser hübsches, sanftes Regensburger Theater? Von ihm weiß ich es nicht, von mir schon: Ich begann mich zu fragen, was mir im Trubel und unter dem Beschuß des Theaters der Siebziger Jahre abhanden gekommen war, was mir fehlte, warum selbst die aufregendsten Inszenierungen einen blinden Fleck, eine unempfindliche Stelle in mir hinterließen. Zum Teil waren es ja die gleichen Stücke und Opern, die ich in meiner fernen Kindheit gesehen und gehört hatte und denen ich mich jetzt wieder aussetzte: Ich begriff sie natürlich jetzt viel besser: das Elend der Ibsenschen Frauen und die Leidenschaft der Widerspenstigen, Aidas Größe und Turandots Grausamkeit waren mir nicht mehr die schönen böhmischen Dörfer von einst. Aber sie hatten etwas verloren, für mich, und ich kam lange nicht dahinter, was es war.

Natürlich war der Bühne mächtige Konkurrenz erwachsen: Fernsehen und Kino, Politik und Job, Liebe und Karriere: Das Theater war schon lange nicht mehr der einzige Spiegel, in dem man das Leben betrachten und von dem man sich trösten lassen konnte. Der Trost, eine der göttlichsten Funktionen der Kunst, hatte sowieso keine Konjunktur mehr, er galt als verächtlich. Wir fehlbaren und unaufgeklärten Menschen verdienten ihn nicht.

Und manchmal hatte man das Gefühl, im Theater nachsitzen, für sein verfehltes Leben nachsitzen zu müssen.

Natürlich nicht immer: Zu groß ist die Kraft dieser wunderbaren Maschine Theater, und gelegentlich verführt sie sogar ihre strengsten Zuchtmeister dazu, Poesie und Entzücken in die Welt zu setzen, für ein entrücktes Publikum, das für zwei oder drei Stunden aus besseren Menschen besteht.

Deswegen wird der Theaterinfizierte immer wieder ins Theater gehen, um dieser Stunden teilhaftig zu werden, in denen man weit von sich weg und gleichzeitig ganz bei sich ist. Er wird sich durch Enttäuschungen, Zynismus oder danebengegangene Pädagogik nicht abschrecken lassen, er wird traurig ertragen, daß ihn viele Theaterabende kalt entlassen, obwohl er sich die Hitze der Leidenschaft so sehr gewünscht hat. Mehr als in jeder anderen Kunst gilt im Theater: Neues Spiel, neues Glück, und der Ewigkeitsbegriff im Theater ist ein anderer als bei jeder anderen Kunst. Natürlich gibt es ihn, Namen wie die Duse, Kainz, Alexander Granach, Sarah Bernhard kennt jeder, der die Bühne liebt. Wir haben keinen von denen in Bewegung sehen können, kennen nur ein paar ulkige Schwarzweißbilder, und das Hören war auf ein paar kratzige, fremd und pathetisch klingende Monologe von uralten Tonträgern beschränkt. Und dennoch waren sie Göttinnen und Götter und die kollektive Erinnerung des Theaterpublikums bleibt ihnen erhalten. Das Theater besteht aus Erinnerung, jeder Abend ist anders, keiner wirklich wiederholbar, das alte Gesetz vom gesprochenen Wort, das man nicht zurückholen kann, gilt auf der Bühne und wird allabendlich neu unter Beweis gestellt.

Ich habe eine bekannte Filmschauspielerin gefragt, was sie immer wieder auf die Bühne treibe – dort wird bar bezahlt, hat sie geantwortet. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, oder doch? Ich wage eine Prophezeiung: In einem Zeitalter des anything goes, der vollkommenen Manipulierbarkeit aller Bilder und des Siegeszugs der sogenannten post­production wird das Publikum eine unstillbare Lust nach dem bar Bezahlten entwickeln. Es bewegt das Herz mehr, wenn man etwas sieht und hört, das so noch nie in der Welt war und danach nie mehr in ihr sein wird. Unsterblichkeit kann nur entstehen, wo Flüchtigkeit in ihrer wahren Form ist. Verweile doch, du bist so schön ist das, was im Theater entstehen kann, entstehen muß, und woraus sich die Unvergleichlichkeit der Theaterlust speist.

Das eben sind die Geister, von denen ich geredet habe und die ich in den Vorhangfalten hocken und auf dem Schnürboden herumflattern sehe. In diesem Theater habe ich es verstanden, das Wunder der Unsterblichkeit, das nur spürbar wird, wenn man die Vergänglichkeit begriffen hat.

Alle, alle sind sie noch da, denn aus ihnen speist sich, bewußt oder unbewußt, was jetzt auf der Bühne geschieht.Auch der Theaterarzt Walther Reinemer, der gute Mensch von Regensburg , wie er in seinem Nachruf genannt wird, geistert noch hier herum, zwischen Jakobstor und Bismarckplatz. Mitte der Achtziger Jahre ist er gestorben, und ich weiß nicht, wie oft er in seinem siebenundsiebzigsten Lebensjahr im Theater gewesen ist, aber ich weiß: Ohne das Theater wäre er nicht so alt geworden, so heiter und skeptisch, elegant und aufgeschlossen wie er war.

Natürlich meckern sie über das heutige Theater, die Geister, sie meckern über das Pubikum, die Kritiker, die Regisseure, sie trauern alten Stücken nach, die doch viel schöner waren als die neuen ( wer spielt heute noch Giraudoux? Thoma? Anzengruber? Und wer spielt Walther Reinemer??) – sie können nicht anders. Aber sie bewegen sich nicht einen Flügelschlag aus diesem Haus, denn was ist das Paradies für einen Theaterbegeisterten anderes als ein wunderschönes, großes, gut besuchtes Theater mit einem gütigen Oberspielleiter?

Natürlich spaziert auch der Geist meines Vaters noch hier umher, denn wirklich gelöst hat er sich nie von seinem allerersten Theater, das ihn träumen und ausprobieren ließ und verzauberte Räume aus Pappe und Farbe gestalten, damit die Menschen ihre Armut vergäßen für ein paar Stunden.

Vor nicht sehr langer Zeit habe ich hier während der Bayerischen Theatertage ein Gastspiel gesehen, Bungee Jumping hieß das Stück, ich dachte, ach du liebe Güte und dann saß ich in meinem alten Kindheitstheater, nicht in meiner Loge, aber immerhin, und mir war wie einst in Peterchens Mondfahrt. Sogar das Bühnenbild hat gestimmt und ich war wieder vier und so gepackt wie damals.

Die Fidelio­Generalprobe überzeugte mich vollends – Es geht immer wieder, es klappt, es ist keine Nostalgie, sondern lebenslange Liebe, und die blüht unversehens auf, wenn der Vorhang aufgeht. Besonders hier – aber das nennt man frühe Prägung, und für die kann man nichts.

Ich bin überzeugt – wenn ich heute um Mitternacht in den Malersaal gehe, treffe ich einen kleinen, blauen und glückbringenden Geist auf vier Pfoten ...

Ich danke Ihnen.

Vom Glück der Vergänglichkeit

Rede zum 25. Jubiläum des Frankfurter Presseclubs im Mai 2005

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren –

Ich gratuliere dem Presseclub und wünsche ihm von Herzen eine lange, friedliche Existenz. Möge er nie, und damit ist es mir ernst, lebensnotwendig werden müssen, ein Hort des Widerstands gegen eingeschränkte Freiheit des Wortes. Möge er nie: Aber man muß glauben dürfen, daß er es sein könnte. Ich denke, Wissen um die Möglichkeiten einer Institution wie dieser bedingt die Zuneigung zu ihr.

Da aber die Zeiten, in denen wir leben, noch ein bißchen Nachdenken über die Freiheit und ihre Bedingungen und Möglichkeiten erlauben, möchte ich heute nicht das Lieblingsinstrument unserer Zunft, die Posaune, spielen. Eher das kleine melancholische Flötchen des Rattenfängers, der sich umguckt und sich wundert, warum ihm eigentlich so wenige nachlaufen. Denn wir schreiben doch jeden Tag das Richtige und trotzdem passierts nicht und unsere Ratschläge verhallen oft ungehört! Hier ist heute ein Geburtstag, und ich habe keine Lust, über Stellenstreichungen, Anzeigenverluste, allfällige Verblödung der Fernsehprogramme, Verlagskon­zentration und Bildungsresistenz der jungen Kollegenschaft reden, Pisa gedenke ich heute nicht zu bereisen und der Neigungswinkel dieses Turms interessiert mich zwar, aber nicht hier. Auch über Korruption, gräßliche Kolumnenkeiler, naive und sentimentalische Dichtung der Boulevard und auch der sogenannten seriösen Presse wird mein Gratulationssprüchlein heute hinwegsehen. Ich habe mir vorgenommen, über die Vergänglichkeit unseres Tuns ein bißchen nachzudenken. Über die Sehnsucht nach Dauerhaftigkeit und ihre Gefahren und über alles, was mit dem Beruf, dessen Rückzugs­Vergewisserungs­und Geselligkeitsort wir heute feiern, in meinen Augen zu tun hat. Ich warne. Was den Journalismus betrifft, neige ich zu „romantischem Glotzen“. Ich finde den Beruf gräßlich und ich liebe ihn. Ich habe ihn verlassen und halte mich mit einer Hand krampfhaft an ihm fest.

Im achten Buch der Odyssee lesen wir – sagt Jorge Luis Borges, wie ich freimütig zugebe, denn ich lese nicht gar so oft in der Odyssee, aber es macht sich doch ziemlich gut, wenn man das so lässig hinschreibt, dieses im achten Buch der Odyssee lesen wir, also, eigentlich Borges daß die Götter unselige Geschichten weben, damit es künftigen Geschlechtern nicht an Stoff zum Singen fehle .

Über diesen Stoff zum Singen möchte ich heute ein bißchen mit Ihnen zusammen grübeln, und warum wir immer neuen Stoff brauchen, ob wir die alten Gesänge in den neuen erkennen können, warum es glücklich machen müßte, daß man in unsere Gesänge am nächsten Tag Fisch einwickelt (ein altmodisches Bild, denn nur noch in England gibt’s diese Zeitungstüten für fish ´n chips mit Essig drauf und auch nicht mehr überall). Ja, es müßte glücklich machen, immer von neuem anzufangen und jeden Tag die Wahrheit mit Schuhen zu versehen, auf daß sie weit laufen lerne. Macht es aber nicht. Nicht jeder Sisyphos ist glücklich.

Journalisten, wir wissen es alle, sind merkwürdig wenig angesehen. Der Beruf, der sich als Vierte Gewalt mitten im Leben aller installiert und sich anmaßt, die Welt, die Zeit und die Menschen in begreifbare Portionen zu packen, taucht mit zwanzig bei vielen als Wunschtraum auf.

Das fängt mit der Schülerzeitung an, ich sehe es mit Vergnügen in den Jugend­schreibt­Seiten, daß das nicht nachgelassen hat ­dann kommen Praktika, Henri­Nannen­Schule, Studium der Kommunikationswissenschaften, Hiwi beim Fernsehen, und irgendwann fragen ­das kennen Sie alle ­branchenfremde Eltern besorgt, ob das denn das Richtige sei? Und wie man diese zweifelhafte Karriere sanft in die richtige Richtung schubsen könnte? Denn die Kinder werden seltsam, die Tochter verschreibt sich einem Beobachtungsprojekt in den Dschungeln Borneos und keine Rede ist mehr von der stundenlangen Blockade des Badezimmers zwecks Gesichtsgestaltung. Der gedanken­schwere und hochintellektuelle Sohn wirft seinen Benjamin und seinen Baudrillard weg und jobbt selig bei der GALA. Und wir, die wir das Vergängliche tagtäglich zurechthämmern, schauen uns um: Wird das gutgehen? Werden sie glücklich werden?

Ich treffe auf zur Zeit auf viel Mißmut, auf Traurigkeit, der ein Mützchen aus Zynismus aufgesetzt worden ist, auf Jobangst, auf grantige Hilflosigkeit der älteren und andererseits, wie zum Trost, auf eine fröhliche Mischung aus Erfahrung und Gelassenheit ­auch bei den Älteren. Wenn einem die Sprache endgültig zur verläßlichen Freundin geworden ist und man sich in ihr wiedererkennt, sind wir immer noch in den miserabel beleumdeten Beruf verliebt, wie die Landfahrer, die ja schließlich auch nicht anders leben wollen ­sage die Gesellschaft, was sie wolle. Vielleicht ist die fundamentale Veränderung unserer Berufswelt, längst ins Leben eingebaut, im journalistischen Stammhirn noch nicht wirklich angekommen: Ich meine das Netz, natürlich. Gewiß ist jedes Wort übers Internet unnütz, seiner Wirkung auf die journalistische Seele und ihre Erkenntnis der Vergänglichkeit allen Tuns lassen Sie mich aber bitte ein paar Worte widmen.

Vor einiger Zeit war mir aufgefallen, daß ich in Artikeln von Kollegen, die ich, nun ja, eher als schlicht kenne, unglaublich schlaue und erlesen ausgewählte Zitate auftauchten. Dieser Schatz liegt nun also jedem zu Füßen, er braucht nicht mal mehr danach zu graben, eine CD­Rom hat das längst für ihn erledigt. Überhaupt hat das Netz, erlauben Sie mir das simple Bild, viel Verborgenes ans Licht gehoben. Man braucht sich nicht mehr selber auf Expeditionen zu begeben. Echte Funde und das Beschreiten unberührten Geländes sind fast ausgeschlossen.

Ich beklage das nicht, es ist, wie es ist, aber was macht es mit uns? Und mit denen, die es nicht anders kennen? Und wie gewinnt man Gewißheit darüber, daß es wirklich das ist, was man tun will, dieses Jeden­Tag­Neu und in Wirklichkeit Nicht­Neu und dazu noch ein immer explosionsbereites Empörungspotential? Diesem Troß der Jäger angehören, in dem man sich je nach Position, die einem zugestanden wird, wie eine Mikrobe fühlt? Und deshalb andauernd seine Wichtigkeit unter Beweis stellen muß?

Und wie ist das mit dem Vergänglichen und dem vermeintlich Bleibenden? Denn Journalisten sind auch Künstler, das lasse ich mir nicht ausreden, auch der testosterongesättigtste Sportreporter ­grade bei denen sind die Poeten gar nicht so dünn gesät.

Was immer am Anfang dieses Berufswunsches stand: Der Welt die Wahrheit um die Ohren zu hauen, Robbie Williams aus der Nähe sehen zu können, dem Kapitalismus tierische Namen zu geben oder endlich zu allen Rockkonzerten oder Formel­1­Rennen eingeladen zu werden ­Der Lust, dieser Lust, wird Ewigkeit nicht beschieden sein! Darauf, werden unsere frisch geschlüpften Kolleginnen und Kollegen sagen, täten sie pfeifen und werfen sich in die nächste Magistratssitzung oder Aktionärsversammlung. (Und es sei angemerkt, daß sie grade da beweisen können, ob der liebe Gott ihnen den schrägen Blick mitgegeben hat! Diesen Blick, der in der langweiligsten Veranstaltung das Goldkörnchen Tragik oder Komik oder am besten beides zu entdecken vermag! Aber davon später.)

Dennoch wird ihnen eins Tages eine Weggabelung nicht erspart bleiben, sie kommt fast immer, zu unterschiedlichen Zeiten, und sogar die von Auto, Motor und Sport stehen da eines Tages, eines grauen Tages und murmeln in sich hinein, während die gestrige Ausgabe matt in ihrer Tasche raschelt ­das kann nicht alles gewesen sein!

Tausende haben das schon vor ihnen gemurmelt und tausende werden es noch tun, Virtualität hin oder her ­denn vor dem inneren Auge, an dieser Wegkreuzung, erscheinen Seiten, nicht Spalten, mit einem festen Deckel drumherum ­EIN BUCH! Damit man endlich etwas hat, womit man gegen die Pforten der Unsterblichkeit hauen kann!

Da lachen die jungen Kollegen und halten einen für bescheuert, klar, daß die Alte kurz vor der Grablegung mal selber im Feuilleton stehen will!

Und sie gehen zurück in das, was sie für ihr unsichtbares Fürstentum halten, ganz cool, aber so cool wie sie tun, sind sie gar nicht, denn ich lese in ihren Geschichten den alten Journalistentraum als Subtext: Der Wahrheit Beine machen zu wollen.

Das geht den Weg alles Irdischen, die Beine werden manchmal lahm, um die Wahrheit geht’s nicht immer, sondern um Politik verschiedener Art: Warum hatten WIR das nicht vorher? Wäre das nicht unser Thema? Was heißt, Sie interessieren sich nicht für Genome? Mit dem X werden wir es uns grade jetzt nicht verderben! Und die jungen Ritter und Ritterinnen schütteln sich unter dem Gewitter der Tagesrealität und tappen im Nebel der sogenannten Interessen herum und warten auf den neuen Tag. Die neue Story. Den göttlich brauchbaren Skandal, der ihnen direkt vor die Füße fällt. Und daß der Chefredakteur aufhört, sie auf dem Kieker zu haben. Und daß der Entlassungskelch an ihnen vorübergehen möge. Nein, so furchtbar cool, wie sie tun, sind sie nicht, das funktioniert dummerweise in dem Beruf auch nur in den ganz hohen Etagen, das Coole. Dafür ist es dort, denke ich, langweilig.

Scheiße, eine Woche zu früh! sagte eine junge Kollegin im vollen Ernst zu mir. Sie war zu ihrem Bedauern schon eine Woche vor Weihnachten 2004 aus ihrem Urlaub in Khao Lak zurückgekommen.

Tsunami, das wärs gewesen! Meine Chance! Ich hab aber auch immer so ein Saupech. Und ich kann sie verstehen.

Woran soll man sich denn halten außer an Sensationen. Das Karussell, auf das man sich heute setzt, hat kein links und kein rechts, es ist rund. Der Gesinnungsjournalismus meiner jungen Jahre ist tot, mausetot. Unbetrauert verschieden, als Präparat noch im Formalin weniger Gewerkschaftszeitungen zu bestaunen.

Mag man Gesinnung? Braucht man sie? Moral?

Ich glaube nicht. Ich glaube nur an den vorhin genannten schrägen Blick, der auf die Dinge schaut wie keiner zuvor, der das Funkenschlagende im scheinbar Statischen wittert, ein zuhörender Blick, wenn Sie mir das quere Bild erlauben ­und der im besten Fall macht, daß wir, die Leser der schräg gesehenen Geschichte, das Beschriebene nie mehr anders wahrnehmen können als der Beschreiber es tat. Ein Beispiel von tausenden: Vor zig Jahren beschrieb Marieluise Scherer einen Berliner Rentner mit seinem Hund. Im SPIEGEL. Ich habe nie mehr einen Rentner mit Hund anders als mit ihren Augen sehen können. So zu schreiben hat mit Moral, Gesinnung oder Mission nichts zu tun. Nur mit Liebe. Aber das wissen Sie ja alle selber.

Noch immer sind unser jungen Kollegen vom Kreuzweg, von der Lebensgabelung, ziemlich weit entfernt. Vorbilder? Ich weiß nicht, ob es noch welche gibt, ich nehme es an. Ich jedenfalls hatte welche, und immer waren sie solche, die ihre eigene Art hatten, mit der Gabelung zwischen Vergänglichkeit und Dauerhaftigkeit umzugehen. Sie sprangen hin und her. Joseh Roth ganz vornedran, der Phänomenologe unter den Journalisten, der rationale Poet ohne jede Hoffnung. Wer wissen will, wie im Rußland der Zwanziger Jahre aus Euphorie Verzweiflung wurde und was sich davon bis heute vererbt hat, der lese seine Geschichte über die Fliegenplage in Astrachan. Dann weiß man auch achtzig Jahre später die wirklich wichtigen Dinge. Oder Kerr: Seine Regel für Zeitungsherausgeber: Er verbinde sich eine Handvoll Kerle, die für ein freiheitliches Wunschziel durch Feuer gehen. (Und keinen Schutzklüngel für eine ästhetische Richtung!) leuchtet uns doch immer noch ein!

Die auf der Kanonenkugel sitzenden habe ich genauso bewundert ­und tu das bis heute, einer meiner Helden ist James Nachtwey ­wie die beharrlichen Xenophone, die notierend hinter den Ereignissen hertappen, (wie ihr Urvater hinter dem griechischen Heer) ­glanzlos, unsichtbar und wahrhaftig. Für die ersten wird mein ewiges Bild sein: Christoph Maria Fröhder, abgemagert, nach Wochen des Verschollenseins auf einem Fahrrad aus dem Dschungel kommend. Jahrzehnte danach immer noch ein Initialbild.

Die Xenophone sind oft Gruppen ­oder nur Kürzel ­sie bleiben dran, wenn die Scheinwerfer längst weitergeschleppt worden sind. Die schreiben dann Geschichtengeschichte. Möge der Gott der Journalisten ihnen auch künftig Platz, Zeit, Atem und Geld gewähren. Oder ihr Konzern, was leider dasselbe sein kann.

Ich habe Orianna Fallcci bewundert, die Henry Kissinger in ein unbedeutendes kleines Pfützchen verwandelte, und wenn es nach mir ginge, müßten gewisse Talkshow­Moderatorinnen, vor allem die blonden, sich sieben Tage und Nächte zwangsweise die Aufzeichnungen der Fallacci­Interviews anhören und ­sehen.

Wie gesagt, ich weiß nicht, ob Vorbilder noch so genannt werden, ob es sie überhaupt noch gibt.

Aber mit ihnen oder ohne sie wird sich der junge Kollege, die junge Kollegin eines Tages mit unguten Gedanken herumschlagen. Das, was so grauenhaft und über die Maßen blöde EDELFEDER genannt wird, gerät als Ziel aus dem Blickfeld. Sie sinds nicht und wissen nicht, ob sies eigentlich werden wollen. Ihr Beruf erinnert sie mit einmmal an die Herstellung von Weißwürsten. Die müssen bis mittag verzehrt, verdaut und vergessen sein. Es ist nichts gegen sie einzuwenden, aber sie sowie die Tageszeitung, egal welche, scheinen plötzlich ein allzu flüchtiges Produkt. Weiche, leicht zu essende Ware. Nichts Schweres, das allzu lang im Magen liegt. Manchmal ein Pfefferkorn. Ein Hervorgezupfter Gedanke, eine kleine Irritation, ein Sehnsüchtchen, ein kirschgroßes Ärgerlein ­Menschenmaß und Leserwunsch, auch wenn die das wütend bestreiten würden.

Es keimt der Wunsch nach der Herstellung schwer verdaulicher Brocken. Jahrelang hatte es gehalten, das Glück der Vergänglichkeit und das damit einhergehende scheinbar immer neue Spiel. Es war stöhnend geliebter Spaß, geben wirs zu: Jene Premiere, dieses Porträt, eine ans Licht beförderte Missetat, eine Wohltätigkeit. Diese Mode, jene gräßliche Reise, eine herrliche danach, die Enttäuschung durch Idole, die Begeisterung durch jemand vorher gering Geschätzten: Alles erlebt, alles festgehalten, alles verweht.

Man hat Sparmaßnahmen, Relaunches und das eine oder andere hübsche mobbing überlebt, Liebe in der Redaktion und Liebe in der Ferne und die Spannung, welche von beiden siegt ­

Alles erlebt, alles verweht.

Und jetzt kommt diese Weggabelung, die so gern Sinnkrise genannt wird und darin begründet ist, daß man, wie Gottfried Benn so wunderbar gesagt hat Hinterlassungsfähige Gebilde schaffen möchte. Es wird uns klar, daß das Flüchtige uns unzufrieden läßt ­schließlich sind wir keine Buddhisten.

Also gibt es ein paar andere Gratifikationen, auf daß wir uns an den Frösten der Vergänglichkeit keine Beulen holen möchten ­eine ganze Industrie sorgt für Bedeutungssimulation, denn das Problem greift längst auch in anderen Bereichen um sich ­eine Art Sterblichkeits­Allergie.

So werden Symposien und Kongresse erfunden, Jurys, und nicht zu vergessen Professuren! Was es nicht alles an Professuren gibt... Denn das Akademische hat bis heute, zu Recht oder zu Unrecht, sowas Ewiges, Unzerstörbares, gleichsam in Marmor gehauenes. Und es versöhnt mit dem Vergänglichen.

Daß man nun meinetwegen in St. Louis, Alabama, vergnügten amerikanischen Buben und Mädchen was über den Essay im neunzehnten Jahrhundert oder die Dramaturgie politischer Reportagen erzählt, bringt den Schmerz nicht zum Verschwinden, es betäubt ihn nur ein bißchen. Man kann sich dort wichtig und ehrwürdig fühlen, wie ich höre, und verblüffenderweise sogar ein wenig sittenlos, als Europäer. Sexuell unberechenbar ­und wenn man dann auch noch raucht, ist bis zum angenehmen Gefühl, mephistophelisch zu sein, kein weiter Weg mehr.

Mit wachsendem Lebensalter und ebensolcher Erfahrung werden die Fluchtmöglichkeiten ins Ehrwürdige zahlreicher ­und auch besser bezahlt ­große Consultingfirmen (über die wir noch vor wenigen Jahren bissig geschrieben haben) versichern sich jetzt unserer Kenntisse und buchen Zimmer nicht unter fünfsternig. Bei über tausend Literaturpreisen ­von den anderen gar nicht zu reden ­sind Jurysitzungen eine schöne und vielseitige Abwechslung. An der Front arbeiten jetzt die Jüngeren, erfinden alles neu, wie seit Urzeiten, haben einen Haufen nie gehörte englische Nonsensausdrücke eingeführt, wir finden, daß alles den Bach runtergeht, ungebildet, oberflächlich, kalt, kenntnislos und was weiß ich ­aber ewig und gültig sind wir immer noch nicht.

Seltsamerweise gibt es in den ältesten Regionen des Gehirns einen Buchglauben, der sich von Verlagskonzentrationen, Wegwerfproduktion, Kenntnis von katastrophal hohen Remissionszahlen und ähnlich Kassandrösem überhaupt nicht beirren läßt. Wir glauben an die Pforten zur Ewigkeit, trotz allem. Auch wenn wir es nicht zugeben und nur nach richtig viel Brunello berühmte Kollegen sich zu dem Satz aufraffen ­ich muß Ihnen mal was sagen, natürlich ganz albern, ich habe eigentlich gar keine Zeit dafür, man hat mich dringend gebeten... dann kommts, das Buch.

Die richtigen cracks haben indessen keinem was erzählt, unhörbar den laptop gefüttert und einen Seller gelandet, ja, das gibt’s auch. Und haben jetzt den Garten, den man in der Tasche tragen kann, ein persisches Wort, das merkwürdigerweise dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl zugeschrieben worden ist.

Ganz ehrlich gesagt: Es ist ein unvergleichliches Gefühl. Aber bevor es so weit ist ­furchtbar. Man geht als dem Vergänglichen, immer wieder Neuen verpflichtete Mensch plötzlich in ein Kloster, vom Wunsch nach Haltbarkeit bedrängt. Man sitzt in seinen Zweifeln wie in siedendem Öl und niemand heißt einen aus dem höllischen Kessel springen und sich schnell um etwas anderes zu kümmern.

Kollegen, mit denen man spricht, benutzen aus ihrer Alltagsgeschäftigkeit heraus einen Gesprächston zwischen verlogenem Respekt und barer Häme. Es fühlt sich an wie der unfreiwillige Wechsel vom Harem des Lebens mit all seinen Verlockungen und Kränkungen in die Öde des Zölibats.

Und die Vergänglichkeit, unsere verlassene Geliebte, hebt ihr zartes Köpfchen und fängt laut an zu lachen.

Die Pforten zur Ewigkeit sind unsichtbar geworden. Vielleicht gibt es sie gar nicht. Vielleicht stehen sie wie in Kafkas Geschichte vom Türhüter offen. Keiner ruft an, denn wir waren ja so blöd und anmaßend, der ganzen Welt mitzuteilen, nicht gestört werden zu wollen. Also stört keiner.

Wie schön wäre es, jetzt von Frau Y angerufen zu werden, die wir eigentlich nicht leiden können, und ihre Grenadiesstimme mit dem Satz zu hören: Sie müssen dringend für uns nach Somalia ­oder so.Ja, auch wenn man schnell nach Fulda oder Dinslaken müßte, wäre es schön!

Sogar ein Interview mit Wolfgang Gerhardt oder Paris Hilton wäre eine freudige Aussicht.

Alles wäre besser. Das Leben! Das vergängliche Leben!

Und aus dem sehr langsam wachsenden Manuskript glotzen uns tote, papierene Augen an! Warum hat man es sich nicht erspart? Die Pforten zur Ewigkeit sind doch längst eine Lachnummer und die Buchläden voller Hervorbringungen von Leuten, die nie eins gelesen haben!

Wie dauerhaft letztlich unser Platz in der Geschichte sein wird, können wir nicht voraussagen ­da müssen wir bis zur Zeit nach unserem Ableben warten. Diese den Dichtern vorbehaltene Tröstung ist bei näherem Hinsehen ziemlich schwächlich und lohnt das ganze Gestrampel nicht.

So gehen wir zurück in die täglichen, wöchentlichen oder filmischen Aufregungen, genießen die Seebeben in sämtlichen Dorfteichen und sammeln die Krümel des Glamours auf, die von der Stars Tischen fallen. Haltbarer als die sind wir allemal.

Neben ihnen fotografiert wirken wir zwar manchmal ein bißchen tramplig, dafür verläßlicher. Wenn unsere Kampagnen, Debatten, Enthüllungen oder Pamphlete, unsere Reflexionen, Erkenntnisse, Sachverhaltsklärungen und Standortbestimmungen ein paar Wochen alt sind, gedenken wir ihrer mit Nachsicht, Ungläubigkeit, Liebe oder Gelächter. Das macht den Glanz des Vergänglichen aus. Und zu Schluß, als Ermunterung, die nächsten 25 Jahre zuversichtlich in Angriff zu nehmen, wage ich eine Prognose. Die sterbliche Zeitung, das unsterbliche Buch ­es wird sie weiter geben. Wie ehedem. Aus Papier. Mit gedruckten Buchstaben drin.

Zum allmorgendlichen Aufregen und Vergessen, zum Entzücken, zum Ärgern, und zum samt Marmeladenbrot mit ins Bett nehmen. Schließlich hat die Sache mit dem Cybersex auch nicht hingehauen! Die alte Methode hat sich souverän behauptet. Man hat von der virtuellen Variante nie wieder gehört.

Alles Gute, Frankfurter Presseclub – ad multos annos un bleib senkrescht...

Klappmaul zu. Affe tot.

Nachruf auf das Klappmaul Theater, 27. Mai 2005

Wir, die wir hier sitzen, hatten alle unsere Chance, so oder so. Manch einer in diesem Auditorium wird sich jetzt schämen und die Tränen nach innen laufen lassen: Ich habe "Hemden mögens heiß" verpaßt, wird er oder sie sich sagen: Dadurch sind mir unvergleichliche Erkenntnisse verschlossen geblieben. Andere werden nie gesehen haben, wie ein Frosch fressen lernt – dennoch: Wir alle haben sie gehabt,  die Klappmäuler, keiner kann sie uns nehmen und vor allem das nicht, was sie uns in dreißig Jahren geduldig und unaufdringlich gelehrt haben, nämlich: Es gibt eine unsterbliche Seele.

Nein, das hat mit Theologie oder Religion nichts zu tun, bei denen geht’s um Glauben: Wir Klappmaul–Erleuchteten aber wissen es: Es gibt einen göttlichen Hauch, denn wir haben ihn ja gesehen, viele, viele Male! Er strömte in alte Socken, dieser göttliche Hauch, in räudige Federboas oder Filzläppchen. Die Unsterblichkeit sah uns plötzlich mit dem Blick reiner Güte und Liebenswürdigkeit aus Knöpfen oder Styroporkugeln an. Wir durften unmittelbar an der Belebung toter und armseliger Materie teilnehmen. Das kann uns keiner mehr nehmen, und wenn wir nach dreißig Jahren nicht begriffen haben, daß hier unablässig an der Rettung unserer Seelen gearbeitet wurde, ist uns sowieso nicht zu helfen.

Insofern könnten wir uns mit den vielen Wundern unserer klappmäuligen Erfahrungen zurücklehnen und den Rest unserer Tage damit verbringen, glücklich über sie zu philosophieren. Allein die Sofatrilogie bedürfte einer jahrzehntelangen Exegese, so viel Weisheit versteckt sich in ihr und wird erst zögernd zur Erkenntnis. Nein, das ist überhaupt nicht blasphemisch gemeint, denn der Geist weht, wie die Schrift sagt, wo er will. Und hier hat er wahrhaftig geweht.

Wie gesagt, wir sind klüger geworden mit steter klappmäuliger Hilfe, tiefsinnig wie Kissen und heiter wie Bettwürste. Und haben begreifen gelernt, daß ein beseelter Putzlumpen weit mehr Einsicht verbreiten kann als , sagen wir, eine Bundestagsdebatte. Der regelmäßige Schöpfungsakt des Puppentheaters hat seine Zuschauer gelehrt, daß man auf dem dünnen Seil zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit tanzen lernen muß, will man glücklich werden. Und daß nichts unbeseelt ist, wenn man genau hinsieht.

Natürlich hat die Liebe zur Seele der Gegenstände für sensible Naturen manchmal schwierige Folgen: Plötzlich ist man außerstande, eine henkellose Tasse wegzuschmeißen, weil sie einen aus melancholischen Augen anschaut. Ein zerschlissenes Handtuch verlang gebieterisch Zuwendung, ein alter Kragen weint bitterlich, als er in die Kleidersammlung soll. Mir scheint, alle wirklichen Klappmaulaficionados kennen dieses abgründige Erschrecken über die Vergänglichkeit, das einem aus ganz banalen Alltagsgegenständen entgegenstarrt.

Auch in dieser Beziehung sind klappmaulsozialisierte Menschen zeitgeistresistent: Die sogenannte Wegwerfgesellschaft wird ihnen ewig verschlossen bleiben und die manische Mülltrennung ist auch nicht in ihrem Sinn: Da würde nämlich die Blume an ihrem Dialog mit einem Sofakissen gehindert!

Wir sind in den Jahren mit ihnen von jeder, wirklich jeder Autoritätsgläubigkeit geheilt worden: Kein Hugo wird bei uns eine Chance haben, und schon gar kein Obertrottel, obwohl die gar nicht selten sind. Wir wissen, woraus sie letztendlich gemacht sind: Ein Fetzen Stoff, ein Haufen Plüsch drumrum, Blech und Fransen: Das ist alles.

Klappmaul macht demokratisch. Das ganze Nahallamaschie, Nahallamaschooooh, sei es in Berlin oder bei der Deutschen Bank, im Frankfurter Magistrat oder wo immer es uns entgegenschallt – wir werden nicht drauf reinfallen, unsere Ohren werden sich nicht taubdröhnen lassen!

Ja, das alles haben wir ihnen zu verdanken, sie verpflichten uns, auf unsere Socken zu hören und den Mond mit den Augen eines Eichhörnchens zu betrachten. Dreißig Jahre, das muß reichen. Wers, wie gesagt, jetzt nicht begriffen hat, begreifts später auch nicht. Das Sofa war unsere Reifeprüfung, wir müssen in den Labyrinthen unseres Lebenssofas jetzt allein klarkommen.

ABER: Jetzt kommt das ganz große Aber:  Was wird jetzt? Wer sorgt für die Erziehung kommender, die Größe im Kleinen vergnügt genießender Menschen? (Daß man lernen konnte, das Kleine in der vermeintlichen Größe zu erkennen, muß hier gar nicht erwähnt werden, es versteht sich von selbst! Daß  manche Große in Wirklichkeit nichts als Lappen und alte Socken sind, aufgepustet und schnell zusammenfallend, hat man in seinen klappmäuligen Erziehungsjahren begriffen.) Es geht nicht an, daß nachfolgende Generationen das nicht mehr erleben. Und es geht nicht an, mit vagen Aussichten auf andere Puppentheater, andere Stücke und andere Konzepte zur Tagesordnung überzugehen. Denn dieses Frankfurter Modell hat eine Methode gefunden, die Welt so zu erzählen, daß man sie anschließend besser ertragen konnte. Auch die Entwicklung des immer variantenreicher belebten Materials, die Unsterblichkeit der Paradekissen, Filzhühner und Lappen darf nicht einfach abgeschlossen und zu Vergangenheit erklärt werden. Daß man aus Klappmaul keine Akademie machen und sie zwischen Styroporsäulen festsetzen kann, ist mir klar. Daß unsere Freunde, jetzt nicht mehr Klappmaul, sondern eben Freunde sind, zu Einzelnen geworden, muß man annehmen. Wenn auch grollend. Aber das Wissen darum, wie man den Leuten die unsterbliche Seele der Dinge zeigt und damit ihre eigene, muß doch aufgehoben, nein, weiterentwickelt werden.

 Es gibt eine wunderbare Existenzform der Kunst, in Amerika üblicher als hier, aber auch in Europa da und dort zu finden, das sind die Sommerkurse. Ich könnte mir vorstellen, daß Sommerkurse für Puppenspieler, die sich von der Frankfurter Magie ein bißchen was abschauen wollen, wo die Lehrenden Einzelne bleiben und doch das gemeinsam geschaffene am Leben haltenund weiterentwickeln, eine tolle Möglichkeit wären.

Bevor jetzt der Chor einsetzt, der so schön und a capella KEIN GELD KEIN GELD singt: (Übrigens das besteinstudierte Lied des neuen Jahrtausends ) – wir sollten gemeinsam überlegen, ob wir uns sowas denken können und ob wir das wollen. Erst erfinden, dann nach Geld graben und Banken überfallen! Das ist die richtige Reihenfolge, und das ist in letzter Zeit gelegentlich in Vergessenheit geraten. 

Ich glaube, hier sitzt niemand, der nicht auch möchte: Da muß etwas weitergehen und  nicht nur konserviert, sondern bearbeitet und geliebt werden.

Ich bin voll Zuversicht. Schließlich habe ich hier viele Male erlebt, wie der göttliche Hauch in Fetzen und Federn fuhr. Er wird uns nicht im Stich lassen.

Ich danke Ihnen.